
Wie schafft Josef Schuster das, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland zu sein und gleichzeitig als Arzt seine Patienten in Würzburg und Unterfranken zu versorgen? Eine Frage, die sich viele gestellt haben, gerade in Zeiten, in denen Schusters Stimme als Mahner gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung gefragter ist denn je zuvor. "Der Zentralratspräsident ist ein Ehrenamt, Arzt mein Brotberuf", hat er immer geantwortet. Trotz zahlloser Termine in der ganzen Republik, vier Tage die Woche hielt der Internist Sprechstunden in der Würzburger Innenstadt. Doch damit ist jetzt Schluss: Nach über 32 Jahren hat Schuster zum 30. Juni seine Praxis an den Würzburger Kollegen Abed Sallam verkauft. Dieser werde sie weiterführen.
"Meine Frau hat ein bisschen gedrängt", verrät Schuster. 66 Jahre seien schließlich ein Alter, in dem man sich aus dem Berufsleben zurückziehen könne. Dass ein Großteil der gewonnenen Zeit gleichwohl nicht in familiäre Aktivitäten fließen wird, da macht sich vermutlich auch Jutta Schuster keine Illusionen. Seit November 2014 steht ihr Mann an der Spitze des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Nachfolge so großer Namen wie Heinz Galinski oder Ignatz Bubis.
Der Zentralratspräsident wacht darüber, dass die Politik hierzulande, vor allem aber auch die Zivilgesellschaft nicht vergisst, welches Grauen die Deutschen mit der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden während der NS-Zeit zu verantworten haben und welche Verpflichtungen sich daraus für heutige Generationen ergeben, wenn man es mit dem "Nie wieder" ernst meint. Schuster erhebt seine Stimme aber auch dann, wenn andere (religiöse) Minderheiten verbal oder mit Gewalt angegriffen werden, wenn politische Extremisten Menschenwürde und Demokratie in Frage stellen.

Zuletzt war er in dieser Rolle gefragt, als die Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager stattfanden. In Corona-Zeiten waren es mehr oder weniger virtuelle Feierstunden, was der Zentralratspräsident mit Blick auf die heute hochbetagten Menschen bedauert, die den Horror der Lager überlebt haben. Diesen letzten verbliebenen Zeitzeugen war heuer wegen der Pandemie die Möglichkeit genommen, sich in den Gedenkstätten zu treffen und gemeinsam zu erinnern. Er hoffe sehr, diese persönlichen Begegnungen nächstes Jahr nachzuholen, so Josef Schuster, der schon als Kind gemeinsam mit seinem Vater, der in Dachau und Bergen-Belsen inhaftiert war, regelmäßig bei den Gedenkfeiern dabei war.
Als Zentralratspräsident richtete der 66-Jährige dieses Jahr eine Videobotschaft an die Teilnehmer der virtuellen Feierstunde in Dachau. Die "Süddeutsche Zeitung" attestiert ihm eine "bewegende Rede". Josef Schuster beklagt darin einen "bedenklichen, politischen Rechtsruck in unserem Land". Gerade in Krisenzeiten würden die Menschen anfälliger für menschenfeindliche und antisemitische Theorien. Politik, Justiz und Zivilgesellschaft müssten wachsam bleiben und dieser Entwicklung konsequenter als bisher Einhalt gebieten. Dazu gehöre es, sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinanderzusetzen. Die NS-Geschichte müssten auch heutige Generationen "kennen und aushalten". Das schulde man den Überlebenden und Opfern des Holocaust.
Dass deutsche und jüdische Geschichte nicht erst seit dem vorigen Jahrhundert untrennbar miteinander verbunden sind, daran wollen die jüdischen Gemeinden im kommenden Jahr erinnern: 2021 jährt sich die erste urkundliche Erwähnung einer jüdischen Gemeinde anno 321 in Köln. "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland": Für den "Ruheständler" Schuster bietet das Festjahr eine gute Gelegenheit, nicht nur als politischer Mahner aufzutreten, sondern seine Religion einem größeren Publikum in der ganzen Vielfalt zu zeigen. Denn auch hier gilt: Wer weiß, wie Juden glauben, feiern und leben, der ist eher gefeit gegen antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien.

Unterdessen hat Josef Schuster ein weiteres Ehrenamt übernommen: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat den Würzburger in den 26-köpfigen Deutschen Ethikrat berufen. Das Expertengremium berät unter anderem die Bundesregierung und den Bundestag bei der Gesetzgebung zu medizinischen und ethischen Fragen. Ein erster Arbeitsauftrag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist die Abwägung von Pro und Contra eines Corona-Immunitätsausweises. Ein solcher Nachweis könnte corona-immunen Menschen vieles erleichtern, beispielsweise ohne Mund-Nase-Schutz Straßenbahn zu fahren oder ein Konzert zu besuchen. Gleichzeitig droht der Ausweis die Gesellschaft zu spalten, wenn er für nicht-immune Menschen Nachteile bedeutet. Schuster ist sich dieses Zwiespalts bewusst.
Auch wenn ihm angesichts dieser Aufgaben im ärztlichen Ruhestand nicht langweilig wird: Ganz auf die medizinische Arbeit möchte der Zentralratspräsident auch künftig nicht verzichten. Für Notarzt-Dienste in der Region, sagt Josef Schuster, stehe er weiter zur Verfügung.