Es ist die Stunde von Schlafforscher Till Roenneberg aus München: Seine seit Jahren publizierte Erkenntnis, dass vor allem für Jugendliche die erste Schulstunde wegen akuter Müdigkeit häufig für die Katz' ist, findet nun nicht nur Gehör, sondern in einem Pilotprojekt auch praktische Anwendung. Das Gymnasium in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Alsdorf bei Aachen bietet seinen Schülern jetzt Gleitzeit an (wir berichteten). Jeder Oberstufenschüler kann dort selbst entscheiden, ob er zur ersten oder zur zweiten Stunde anfängt. Die verpasste erste Stunde kann in einer der Freistunden nachgeholt werden. Das Projekt ins Alsdorf fließt in die Forschung von Chronobiologe Roenneberg ein, Ergebnisse werden in den nächsten zwei Monaten erwartet.
Gleitzeit: Verständnisloses Kopfschütteln oder wahrer Segen?
Was bei den einen nur für verständnisloses Kopfschütteln sorgt, erweist sich für viele Schüler schon nach der ersten Testphase als wahrer Segen. Die oft als quälend empfundene erste Stunde fällt weg, die meisten fühlen sich bei einem späteren Schulbeginn um 8.30 oder 9 Uhr deutlich fitter.
Dass ein späterer Unterrichtsstart nichts mit mangelnder Disziplin, Verwahrlosung der guten Sitten oder einer übertriebenen Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu tun hat, predigt Professor Till Roenneberg seit Jahren. Bisher allerdings vergeblich. Denn so gesichert die Erkenntnisse aus der Schlafforschung auch sein mögen – sie passen einfach nicht in den ausgeklügelten Lebensrhythmus deutscher Familien und in den eng getakteten Ablauf von Schulen und den mit dem Schultransport beauftragten Verkehrsbetrieben hinein.
Schüler fallen oft in ein soziales Jetlag
Und überhaupt: Gleitzeit für Schüler? Ja, wo sind wir denn? Die sollen mal früher ins Bett gehen, dann sind die morgens auch wach! Und wer hat uns denn gefragt, ob wir wirklich schon um 5.30 Uhr aufstehen wollen, um den Schulbus zu erwischen? Niemand! Aber genau das, so sagen Forscher, ist der falsche Ansatz, um die Diskussion ernsthaft zu führen. Hier geht es um biologische Fakten. Um das Ticken der inneren Uhr. Und die geht bei Jugendlichen bis zum 20. Lebensjahr nach. Folge: Sie schlafen später ein. Da nutzt es auch nichts, früher ins Bett zu gehen.
Dreiviertel der Jugendlichen, sagt Experte Till Roenneberg, geraten durch den frühen Schulbeginn in ein „soziales Jetlag“. Sie haben nicht nur mit Müdigkeit zu kämpfen, viel schlimmer ist es, dass das am Vortag erlernte Wissen nicht mehr ausreichend im Schlaf konsolidiert werden kann.
„Natürlich sind manche Schüler morgens müde“
Für den Direktor des Schweinfurter Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums, Christoph Zänglein, klingt der Vorstoß mit der Gleitzeit „ganz nett“. Er habe nichts gegen einen späteren Unterrichtsbeginn, machbar sei das in der Praxis aber nicht. „Ich brauche ja dann für beide Stunden Lehrer, das klappt vom Kontingent her schon nicht.“ Zudem so Zänglein, decke sich seine 30-jährige Erfahrung als Lehrer nicht mit den Ergebnissen der Schlafforscher. „Natürlich sind manche Schüler morgens müde. Aber wir haben festgestellt, dass die Mehrheit der Schüler gerade in den ersten Stunden sehr konzentriert sind und die Konzentration erst ab der fünften, sechsten Stunde extrem nachlässt.“
Proben würden deshalb gerne in die ersten beiden Stunden gelegt, so der Oberstudiendirektor. Doch genau das findet Schlafforscher Roenneberg wiederum ungerecht all jenen gegenüber, die ohne eigenes Verschulden zu dieser Zeit mit extremer Müdigkeit zu kämpfen hätten. Die Leistungen innerhalb einer Klasse seien dadurch gar nicht vergleichbar.
„Richtig ankommen im Klassenzimmer“
In der Grundschule Heuchelhof in Würzburg beginnt der Unterricht erst um 8.15 Uhr. Das sei zwar aus transporttechnischen Gründen entstanden, allerdings, so Rektorin Christine Dusolt, habe es sich auch bewährt, den Kindern morgens mehr Zeit zu lassen. „Sie können richtig ankommen im Klassenzimmer.“ Bis der Unterricht startet, „sind alle auch wirklich aufnahmebereit.“
Dusolt verfolgt das Thema Gleitzeit in Schulen mit großem Interesse, sieht aber auch wegen des hohen Betreuungsbedarfes von Grundschulkindern Schwierigkeiten in der Umsetzung. „Das Problem sind hier die unflexiblen Arbeitszeiten der Eltern“, sagt sie. In Skandinavien sei so etwas gar kein Thema. „Das Kind steht da viel mehr im Mittelpunkt im Tagesablauf der Eltern. Und das ist von der Gesellschaft dort als selbstverständlich akzeptiert. Das würde ich mir hier auch wünschen“, sagt sie.
Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes für späteren Unterrichtsbeginn
Gleitzeit in Schulen sei aber sicher kein Ding der Unmöglichkeit, wenn von der Schulleitung, über Lehrer, Eltern, Kommunen und Transportunternehmen alle an einem Strang ziehen würden. Für einen späteren Unterrichtsbeginn setzt sich auch die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Simone Fleischmann, ein. Ihr Verband diskutiert schon seit Jahren über flexiblere Unterrichtszeiten – verbunden mit einem späteren Start in den Tag – und zwar in allen Schularten, nicht nur in der gymnasialen Oberstufe. Die Forderung nach Gleitzeit in Schulen ist also alles andere als neu. An gesetzlichen Vorgaben würde es nicht scheitern: So können Schulleiter in Bayern schon jetzt eigenverantwortlich entscheiden, wann der Unterricht losgehen soll.
Woran also scheitert es? „Ich glaube, die Idee löst bei vielen Familien erst mal Ablehnung aus, weil ihr Alltag meist stark reglementiert ist, die Minuten am Morgen regelrecht durchgetaktet sind. Wenn da plötzlich ein Kind später zur Schule kommen soll, wirbelt das alles durcheinander“, erklärt Fleischmann. Flexiblere Unterrichtszeiten setzten Bedingungen wie eine Frühbetreuung für Kinder berufstätiger Eltern voraus. Familienministerin Manuela Schwesig habe nicht umsonst von einem nötigen Wandel in der Wirtschaft gesprochen, denn ein späterer Schulbeginn passe nicht zur gegenwärtigen Arbeitswelt.
„Alleine kann eine Schule so etwas nicht stemmen“
Fleischmann wünscht sich bei dieser Frage mehr Engagement vom Kultusministerium. Das müsse die Schulen viel mehr ermuntern und unterstützen. „Alleine kann eine Schule so etwas nicht stemmen“, glaubt auch der Direktor des Deutschhaus-Gymnasiums in Würzburg, Michael Schmitt. Er zeigte sich auf Anfrage dieser Redaktion eher amüsiert über den Gedanken der Gleitzeit in Schulen. „Ich zweifle nicht die wissenschaftlichen Ergebnisse an, aber ich zweifle die Umsetzung an.
“ Jede Individualisierung führe zu einer Verlängerung der täglichen Schulzeit. Insofern ist sich Schmitt nicht sicher, ob wirklich alle Schüler mit so einer Umstrukturierung überhaupt einverstanden wären.
In der Montessori-Schule Rhön-Saale in Sandberg (Lkr. Rhön-Grabfeld) beginnt der Unterricht erst um 8.30 Uhr. Renate Molzberger vom Vorstand des Trägervereins erklärt, dass das kein Problem sei, da das Konzept der Schule auf einen rhythmisierten Ganztagsablauf basiere. Aber auch sie gibt zu bedenken, dass die Schule dadurch länger gehe und die Kinder nachmittags später heimkämen.
Damit das nicht der Fall ist, werden etwa in der Vorzeigeschule in Nordrhein-Westfalen die Freistunden genutzt. Dass die Gleitzeit in dem Gymnasium organisatorisch überhaupt möglich ist, liegt an dem pädagogischen Konzept der Schule. So wird dort nach dem Dalton-Plan der amerikanischen Pädagogin Helen Parkhurst unterrichtet. Neben den normalen Wochenstunden gibt es dort zehn Unterrichtsstunden, die sich die Schüler selbst einteilen können, um selbst ausgesuchte Aufgaben und Arbeitsfelder bei einem Lehrer ihrer Wahl eigenverantwortlich zu erfüllen.
„Die flexible Lernzeit ist sicherlich sehr gut, aber sie fordert eben auch ein gemeinsames pädagogisches Nachdenken über Zeit selbst“, sagt der Würzburger Professor Andreas Dörpinghaus, der den Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der Uni Würzburg inne hat. Deshalb seien solche Überlegungen ohne pädagogische Anbindung lediglich dem Gedanken der Leistungsoptimierung verpflichtet. „Wenn wir also über neue Zeitmuster in Schulen nachdenken, können wir das nicht tun, ohne bereit zu sein, veraltete Prinzipien in Frage zu stellen.“ Zum Beispiel die Zeitdisziplin, die für die Disziplinargesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts wesentlich gewesen sei.
„Verantwortung lernt man nur, wenn man Verantwortung übernimmt“
Eine Schule heute, so Dörpinghaus, müsse sich nicht an Disziplin, Kontrolle und Leistung – die Kinder im Übrigen nicht glücklicher mache – orientieren. „Sie kann es auch an Interesse, Neugier, Freiheit, sozialer Verantwortung und Bildung tun. Nur dazu erfordere es Mut und Vertrauen in die nachwachsende Generation. Beides sei rar gesät. „So mag die Diskussion um Zeit der erste und wichtigste Schritt in die richtige Richtung sein. Verantwortung lernt man nur, wenn man Verantwortung übernimmt.“