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WÜRZBURG
Irritiert durch die Geschichte
Stadtführung: Wolfgang Jung erzählt immer donnerstags zwischen Residenz und Mainbrücke vom Leid der Würzburger, Bayern zu sein. Oder doch nicht?
Alice Natter
 |  aktualisiert: 26.04.2023 22:22 Uhr

Würde man eine Stadtführung konzipieren, darüber, dass die Würzburger seit 200 Jahren Bayern sind und heute noch darauf bestehen keine zu sein . . . Würde man durch die Stadt führen und davon erzählen, wie Kaiser Franz II. vor 200 Jahren entschied, dass das frische Großherzogtum Würzburg doch wieder den Bayern zugeschlagen ward und was nach dem lustlosen, so gar nicht herrrisch gesinnten Ferdinand von Toskana mit Würzburg passierte . . . Würde man seinem Publikum erzählen, wie man nordbayerische Provinz wurde, dass man darüber arg jammerte und was man wirklich davon hatte . . . Wen würde man als ersten Protagonisten wählen? Mit wem würde man die Führung beginnen beim Treffpunkt vor der Residenz?

Nun?

„Kennt den wer?“ – Da steht Wolfgang Jung, mit einem roten Ordner in der Hand, umringt von drei, vier, manchmal auch acht Dutzend Zuhörern am Frankonia-Brunnen und und zeigt das Porträtbild eins stattlichen Mannes mit Vollbart, Schmollmund und geröteten Backen herum. Ein Ruf, es hallt und schallt vor der Residenz: „Andreas Hofer!“ Ja, doch. Wolfgang Jung, der Stadtführer, wählt Andreas Hofer für die erste Episode seiner Tour. Viehhändler und Wirt, Anführer des Aufstands gegen Bayern 1809 und österreichischer Freiheitsheld. Ein, wie der Stadtführer im breiten Dialekt sagt, „Dibbdopp-Dypp!“

Und wer unter den Zuhörern ein wenig irritiert ist, dass Jungs neue Geschichtstour „Vom Leid der Würzburger, Bayern zu sein“ ausgerechnet mit einem österreichischen Nationalhelden beginnt, der ist's gleich noch mehr.

Denn zwei Atemzüge nach dem Aufzählen der Heldentaten des Tipptopp-Typs Hofer, da hallt es wieder über den großen Platz: „Ein katholischer Taliban! Das ist ein Alpen-Ayathollah gewesen!!“

Und dann erzählt der Journalist, was der aufständische Hofer, der den Würzburger eigentlich recht sympathisch sein müsste, wirklich wollte und tat. Warum der Hofer-Beginn? Weil Bayern vor 200 Jahren Tirol und Vorarlberg rausrücken musste und Würzburg bekam. Und weil Wolfgang Jung jeden Donnerstagabend bei seinem 100-Minuten-Gang durch die Stadt gerne irritieren will.

Ja, irritieren. Erzählen, plaudern, Anekdoten auftischen, irritierendes Wissen servieren – aber bloß nicht belehren, bloß keinen Geschichtsunterricht beten. Weiter zur Maxstraße. An zehn Stationen im Zentrum zeigt Wolfgang Jung was die Würzburger als Bayern verloren haben und was sie gewannen. Er stellt vor Bischofspalais, Harmonie und Rathaus vermeintliche und tatsächliche Freiheitskämpfer vor. Zitiert aus den Physikatsberichten des Amtsarztes von 1858: „Auch die minder Bemittelten essen wie der Bauer vier mal wöchentlich Fleisch. Der Donnerstag ist auch in der Stadt der allgemeine Krauttag. Sauerkraut und Knöchli.“ Lieblingskost!

Und – „Kennt den wer? – der 53-jährige hält seinen roten Ordner hoch und fragt in die Runde. Wilhelm Behr, Graf Friedrich von Thürheim, Felix Fechenbach, Ludwig Ganghofer, Karl Liebknecht, August Bebel sind die Männer, über die es in dieser Stadtführung geht. „Kennt den wer?“ Wenn jemand den kennt, den Behr oder Bebel, dann freut sich Wolfgang Jung. Kennt den keiner, guckt die Runde ratlos, dann freut's ihn auch. Dann kann er ja was Überraschendes erzählen.

Wolfgang Jung will, dass Geschichtsbilder wanken, will Geschichtsschreibung hinterfragen. Will zeigen, dass man sich nicht nur an dem Überkommenen, Geklitterten orientieren darf, wenn man Geschichte wirklich verstehen will. In den vergangenen Jahren hat er bei seinen Historienrunden mit kleineren und größeren Menschenmengen schon vom schönen und vom bösen Schein der Stadt erzählt. Und von Krawallmacher, die es – ja! – im frommen Bischofsstädtlein doch auch gab.

Und weiter zum Dom. Weiter durchs 19. Jahrhundert, hinein ins 20. „Einer von uns war dabei, wie das Königreich Bayern alle gemacht worden ist“, sagt Wolfgang Jung in der Ursulinengasse, vor dem Geburtshaus des Felix Fechenbach. Sekretär von Kurt Eisner, vom ersten bayerischen Ministerpräsidenten, war der junge Journalist und Schriftsteller Fechenbach gewesen. Ein Revolutionär, 1922 von einem Münchner Landgericht zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt wegen Landesverrats. Dass Fechenbach über rechtsradikale und verbotene Geheimorganisationen berichtet hatte, mit denen – „das erfuhr er dann“ – sein Richter sympathisierte . . . Da zieht der Stadtführer seine Mütze.

Nächste Station, vor der Commerzbank, in der vor 100 Jahren noch gesoffen und gezockt wurde. Da braucht keiner den roten Themenfaden zu suchen. Braucht keiner sich wundern, dass es jetzt um eine Liebelei vom Bayern-Poeten Ludwig Ganghofer geht, der mit einem Würzburger Fräulein bei einer amourösen Bootstour an der Mainbrücke hängen blieb. Nein, Jung erlaubt sich – und der Zuhörerschar – auch einfach mal eine nette Anekdote.

Wird ja auch gleich wieder richtig ernst. Vor dem Rathaus – noch ein Protagonist: „Kennt den wer?“ – berichtet der Stadtführer vom problematischen Stand der Arbeiterschaft in Würzburgs Geschichtsgedächtnis. Und ruft laut: „Der Vorstand des Würzburger Arbeiterbildungsvereins war Vorstand aller bayerischen Arbeiterbildungsvereine! Das wissen wir nicht mehr!“ Nein, die kleinsten und kleinen Leute, die Arbeiter, die Linken, gehören wirklich nicht zum Würzburger Geschichtsbild. Doch der Historienkenner lässt sich beim Irritieren nicht beirren: Von wegen unter dem Krummstab ließ es sich gut leben. Mag es auch in Würzburg mehr Kirchtürme als Fabrikschlote gegeben haben: Die Mehrzahl der Würzburger waren arme Schlucker und schafften sich mit 85, mit 96 oder 110 Wochenstunden als Schneider, Schuhmacher oder Metzger kaputt. „Wir wissen kaum etwas über sie. Sie sind unsere Vorfahren. Und was wir wissen, gehört nicht zu unserem Würzburg-Bild.“

Station zehn, schönst möglicher Ort für den Schluss einer Stadtführung: Alte Mainbrücke zur blauen Stunde. Aber Idylle ist Wolfgang Jungs Sache nicht. Erst erzählt er, wie die österreichisch-bayerische Armee anno 1813 unter General Wrede – ohne Not und aus schierer Lust am Heimzahlen – die Stadt beschießen ließ. Und dann sagt er, nach 100 Minuten: Den Würzburgern, die so wegen der Bayern jammerten und gegen den König kämpften, sei es nie um Freiheit für Franken gegangen. Nicht um eine gemeinsame fränkische Kultur oder Identität. Der Begriff „Franken“? „Wir gebrauchen ihn zur Abwehr, wenn uns jemand ,Bayer‘ nennt.“ Frankens Einheit? Ein Beschiss. Eine Marke der Tourismusmanager, sagt Wolfgang Jung.

Hätte man eine große Zuhörerschar durch die Stadt geführt, hätte aus 200 Jahren bayerischer Würzburg-Geschichte erzählt, wie würde man sein Publikum in die Nacht verabschieden?

Nun?

Wolfgang Jung steht am Brückenheiligen Nepomuk und sagt laut und heftig: „Unsere Vergangenheit, so wie wir sie in unseren Köpfen tragen, hat nicht stattgefunden.“ Wir würden nur kennen, was wir wissen sollten. Nicht, was wir wissen müssen. Ein „Schweineglück“ sei's gewesen, dass die Bayern vor 200 Jahren gekommen sind.

Stadtführungen: Bis Ende Oktober jeden Donnerstag (außer 2. Oktober), Start um 19.30 Uhr am Frankoniabrunnen vor der Residenz. Preis: 6 Euro, keine Anmeldung nötig. Wolfgang Jung führt auch auf Nachfrage, Tel. 0172-109 55 18 oder E-Mail stadtfuehrung@schreibdasauf.info

Mehr Infos: www.schreibdasauf.info

„Kennt den wer?“: Wolfgang Jung bei seiner Stadtführung über das Wohl und Weh der Würzburger in Bayern.
Foto: THOMAS OBERMEIER | „Kennt den wer?“: Wolfgang Jung bei seiner Stadtführung über das Wohl und Weh der Würzburger in Bayern.
 
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    Wolfgang Jung sind spannend, lebendig und sehr informativ. Einfach nur großartig und ein MUSS für alle, die in dieser Stadt leben und lieben! zwinkern
    http://www.youtube.com/watch?v=rvmLh1SVhU4&list=UUK0qYFD0msob0jvBopIZmFg
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