
Vor sieben Jahren reiste der Reichenberger Jonas Lütke nach Australien in den Urlaub – und blieb dort. Er lebte seinen Traum, fuhr zweimal über den fünften Kontinent und wurde Fallschirmlehrer. Doch vor einem Jahr: genau am 9. April – passiert es: Bei einem Formationssprung stößt Jonas Lütke mit einem anderen Springer in der Luft zusammen. Wirbel verschieben sich. Pures Glück, dass er überlebt hat. Aber seither ist er vom Brustkorb ab gelähmt. Obwohl er schon Jahre nicht mehr in seiner alten Heimat Reichenberg war, erhielt er von dort viel Unterstützung.
„Ursprünglich wollte ich nur 30 Tage in Australien bleiben“, erzählt Lütke, wie er mit 19 Jahren fast zufällig zum Auswanderer wurde. Der Plan war eigentlich, nach Neuseeland weiterzureisen. Doch hatte er sich etwas verzettelt und den Flug verpasst. „Dann bin ich einfach hier geblieben“, sagt der 26-Jährige per Videochat aus dem australischen Cairns. „Das Wetter, die Landschaft, die Mentalität, die Jobalternativen – alles schien hier möglich zu sein, was in Deutschland nicht möglich war“, nennt der gelernte IT-Systemkaufmann die Gründe für sein Auswandern.
Er fand Freunde, die Liebe und hatte den „besten Job der Welt“ als Fallschirmlehrer. Es hätte nicht besser laufen können. Doch dann kam mit dem 9. April 2014 der Tag, der sein bisheriges Leben auf den Kopf stellte. In seiner Freizeit nahm er an einem Fallschirmsprung-Festival teil. „Der Unfall ist passiert bei einem Sprung mit zehn Leuten. Die Idee war, wir fliegen ein paar Kurven. Einer führt und die anderen fliegen ihm hinterher.“ Doch er und ein Freund übersehen einander, sie prallen in der Luft mit den Köpfen und Schultern aneinander.
Dieses Video zeigt, was Jonas zu seiner Falschirmspringerzeit gemacht hat
Auf dieser Facebook-Seite berichtet Jonas unregelmäßig über sein Leben
Hier werden Spenden für Jonas Lütke gesammelt
Der sechste und siebte Wirbel verschieben sich bei dem Zusammenstoß. Lütke ist sofort gelähmt – und befindet sich noch im freien Fall. „Ich konnte den Fallschirm nicht ziehen. Der Sprungleiter sah den Zusammenstoß, kam zu mir geflogen und löste den Fallschirm aus“, erzählt der 26-Jährige. Der Schirm sei perfekt aufgegangen, bei Problemen wäre er hilflos gewesen. „Es hätte auch alles ganz anders ausgehen können“, sagt Lütke heute.
Es folgt ein siebenmonatiger Aufenthalt im Krankenhaus. „Das ist dann ein anderes Leben als davor“, sagt Lütke. Anfangs konnte er nicht reden, nur auf Buchstaben zeigen. „Ich dachte mir nur, irgendwie gehe ich wieder fliegen, schnalle mir einen Fallschirm an den Stuhl.“ Die Folgen waren ihm zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich bewusst. „In den ersten Wochen war es eine Verweigerung. Die Erkenntnis kam erst ein, zwei Monate später.“ Nach einer Rückenmarksverletzung dauert es einige Wochen, bis klar ist, ob die Bewegungsunfähigkeit bleibt, oder ob man doch wieder laufen kann. Bei ihm blieb es so.
„Ich bin Optimist, war immer Optimist“, sagt der 26-Jährige. Trotzdem habe es nach dem Unfall auch sehr, sehr dunkle Tage gegeben. „Da bin ich durch alle Gefühlslagen gegangen, die man so erleben kann.“ Jetzt, ein Jahr nach dem Unfall, hat sich aber schon viel verbessert. Zumindest die Hände kann er zu etwa 20 Prozent wieder bewegen. Auch die Arme könne er heben. Früher ist er joggen gegangen, Skateboard gefahren, Slackline gelaufen. Das alles ist nicht mehr möglich. Auch Gitarre könne er nun nicht mehr spielen, aber – er hält grinsend eine Mundharmonika in die Webcam – unterkriegen lässt er sich nicht.
Obwohl der Auswanderer schon seit knapp vier Jahren nicht mehr in Deutschland war, erhält er viel Unterstützung aus der Heimat. Dafür bedankte er sich jüngst im Reichenberger Mitteilungsblatt, um auch diejenigen zu erreichen, die ihm nicht auf Facebook folgen: „Es berührt mich nach wie vor sehr, so viel Hilfsbereitschaft aus der Heimat zu erfahren“, schreibt der Querschnittsgelähmte in seiner Dankesbotschaft.
Neben mentalem Zuspruch bekommt er auch Geldspenden. Sabrina aus dem Landkreis Würzburg – die ihren Namen nicht vollständig in der Zeitung lesen möchte – kennt Lütke schon seit Kindheitstagen. Im vergangenen Jahr hat sie im Internet ein Spendenkonto eröffnet, über 3300 Euro sind so bislang zusammengekommen. „Ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen“, sagt die 25-Jährige. Dennoch sei sie geschockt gewesen, als sie von dem Unfall erfahren hat. „Ich habe ihn dafür bewundert, dass er seinen Traum in Australien gelebt hat – und dann kommt so was.“
Um Geld zu sammeln, habe damals Jonas Lütkes Mutter Tassen mit der Aufschrift „For Jonas :-)“ für 20 Euro verkauft. „Da kam schon ein bisschen was zusammen. Aber ich dachte mir, es muss was geben, worauf jeder zugreifen kann, was einfacher ist“, sagt die Freundin. Viele alte Bekannte aus Würzburg und Umgebung hätten daraufhin für ihn gespendet.
Die Unterstützung kann Lütke gut gebrauchen, denn die Umstellung auf ein rollstuhlgerechtes Leben kostet viel Geld. Seine nächste Anschaffung wäre eine Halterung, so dass er auch mal stehen und die anderen Körperteile entlasten kann. Doch schon so etwas scheinbar simples wie diese Stehhilfe kostet zwischen fünf- und zehntausend Dollar. Dass der 26-Jährige über zwei Meter groß ist, macht die ganze Sache auch nicht billiger oder einfacher.
Sein großer Traum ist es, eines Tages wieder fliegen zu können. Zwar gibt es noch keinen Querschnittsgelähmten, der das vorher probiert hat, doch Lütke ist sich sicher, dass es mit einem motorbetriebenen Paraglider klappen könnte. Doch nun stünden erstmal lebenswichtigere Anschaffungen wie besagte Stehhilfe oder ein behindertengerechtes Auto an. „Aber wenn ich in fünf Jahren mit dem Paraglider fliegen kann, habe ich alles erreicht, dann kann ich sterben“, sagt der Mann mit den Dreadlocks und lacht. „Wenn du einmal in den Himmel geschaut hast, die Wolken von oben gesehen hast, dann ist es schwierig von unten hoch zu blicken und daran zu denken, dass man nicht mehr nach oben kommt.“
Bevor er wieder abhebt, will der Auswanderer erst mal wieder beruflich Fuß fassen. Er macht an der Uni in Australien sein Diplom im IT-Bereich. Seit dem Unfall steht alles wieder auf Anfang, doch er bereut nichts. „Ich würde jeden einzelnen Tag wieder genauso leben. In diesen sieben Jahren habe ich den Traum gelebt, den ich leben wollte. Ich glaube nicht, dass ich das für meine Beine oder für meine Hände tauschen würde.“