Es ist 9 Uhr morgens. Die Kinder der Kindertagesstätte (Kita) Vogelshof versammeln sich im Morgenkreis und singen zur Begrüßung. In der Mitte liegt der große Jahreskreis, an dem insgesamt 365 Perlen befestigt sind. "Heute ist der 21. Juni 2018. Das heißt, es ist Sommeranfang", erklärt Erzieherin Nadja den Kleinen. Ein Junge darf eine Perle weiterschieben. "Der 20. ist vorbei", ermutigt ihn die Erzieherin. Noch eine Besonderheit gibt es an diesem Morgen: Der stellvertetende Kita-Leiter Markus Hösel hat Wandelnde Blätter mitgebracht. Der kleine Tailor darf im Kreis herumgehen und die pflanzenfressenden Insekten, auch Gespensterschrecken genannt, in einer Box zeigen. Das begeistert alle Kinder gleichermaßen, ganz egal ob mit oder ohne Behinderung.
Dann geht es mit dem Tagesprogramm weiter: Es ist Bändchenzeit und je nach gewähltem Projekt gibt es ein blaues, ein orangenes oder ein weißes Bändchen ums Handgelenk. Zur Auswahl stehen verschiedene Aktionen, so können die Kids Anstecker mit Acrylfarbe bemalen, in der Hängematte im Bewegungsraum schaukeln oder in der neuen Matsch-Küche im Garten leckeren Matsch-Kuchen backen.
Alle Kinder haben das Recht auf gemeinsame Erziehung und Bildung
"Bei uns stehen nicht Behinderung oder Nicht-Behinderung im Fokus, sondern die Persönlichkeit und die Individualität jedes einzelnen Kindes", sagt die Leiterin der Kita, Ursula Ottenbacher. Das Recht aller Kinder auf eine gemeinsame Erziehung und Bildung sei die Grundlage der pädagogischen Arbeit. Dabei orientiert sich das Team an den Konzepten der Offenen Arbeit, der Montessori- und Pikler-Pädagogik. Auch die Gebärden-unterstützte Kommunikation (GuK) bindet die Kita mit ein, um die Lautsprache zu untermalen."Uns ist es wichtig, die Interessen des Kindes wahrzunehmen, ihm Zeit und Raum zu geben, seinen Wunsch nach Selbstständigkeit zu unterstützen und die Gefühle des Kindes ernst zu nehmen."
Vor 30 Jahren, erzählt Ottenbacher, sei das Kindergarten-Projekt erstmal mit Skepsis betrachtet worden. "Inklusion war da kein großes Thema. Entweder die Kinder gingen in den Regelkindergarten oder in eine Fördereinrichtung." Da sei der neue Würzburger Kindergarten ein Pilotprojekt für ganz Unterfranken gewesen. Gegründet wurde er von der Elterninitiative "Vielfalt leben e.V.", die die Vision hatte, Kinder mit und ohne Behinderung den Kita-Alltag gemeinsam erleben zu lassen.
Kinder kamen aus dem ganzen Landkreis
Zunächst gab es nur eine Gruppe in den Räumen des Zentrums für Körperbehinderte, erzählt Elisabeth Elser, die von der ersten Stunde an als Erzieherin mit im Boot war. Schon nach zwei Jahren übernahm die evangelische-lutherische Gethsemanegemeinde die Trägerschaft, und der Kindergarten bezog eigene Räume in der Ossietzkystraße. "Da unser Konzept ganz neu war, kamen die Kinder auch aus dem Landkreis zu uns an den Heuchelhof gefahren", so Elser. Seit 1997 befindet sich die Kita in der Bukarester Straße, vor fünf Jahren kam eine Krippen-Gruppe dazu.
Heute umfasst die Kita 33 Kindergartenkinder und 16 Krippenkinder, ein Drittel der Kinder hat eine Behinderung, vom Down-Syndrom bis hin zu Mehrfachbehinderungen. Viele der insgesamt 18 Erzieherinnen und Erzieher haben Weiterbildungen in den Bereichen motorische oder sprachliche Entwicklung. In drei Jahrzehnten habe sich einiges getan, erzählt Ottenbacher. Sowohl politische Richtlinien als auch gesetzliche Rahmenbedingungen stärkten das inklusive Anliegen und "unser pädagogisches Konzept entwickelte sich weiter - immer mit Blick auf die Kinder und ihre Bedürfnisse" .
Themenräume statt Gruppenräumlichkeiten
So sind zum Beispiel alle Räume in der Kita Vogelshof barrierefrei, außerdem gibt es ganz bewusst keine Gruppen-, sondern Themenräume. „Wir arbeiten mit kleinen Bezugsgruppen von fünf oder sechs Kindern. Räumlich getrennt werden die Themen-Grüppchen aber nicht“, so Ottenbacher. Ottenbacher und Hösel sehen ihr Erfolgsrezept in der intensiven Betreuung und Förderung der Kleinen. Und: "Wir sind alle mit Herzblut dabei, das ist das Wichtigste", so Ottenbacher. Nicht zuletzt sei Arbeitszeit auch Lebenszeit, "und die wollen wir uns doch schön machen". Das Konzept gefällt auch den Eltern, "und wir haben nie Probleme gehabt den Kindergarten zu füllen", so Hösel.
Die Kita steht auch anderen Kindertageseinrichtungen, die sich - seit der so genannten Behindertenkonvention von 2009 - der Inklusion geöffnet haben, mit Rat und Tat zur Seite. So komme es vor, dass Mitarbeiter anderer Kindergärten zu Besuch kommen und sich über Konzept und Ausstattung informieren. "Das ist für uns selbstverständlich, denn wir können aus unserer 30-jährigen Erfahrung schöpfen", so Hösel.
Die fünfjährige Amelie und die sechsjährige Emilia jedenfalls lieben ihren Kindergarten. Gerade haben sie sich in der Matschküche ausgetobt. Was das Tolle daran ist? "Dass man da so rummatschen kann", sagt Emilia überzeugt. Und Amelie fügt hinzu:"Wir helfen auch gerne den anderen Kindern, wenn sie etwas nicht können." Das bestätigt Erzieherin und Motopädin Viktoria Maurer.
"Dadurch, dass alle Kinder zusammen Zeit verbringen und Abenteuer erleben, spielt Behinderung keine Rolle. Sie gehört zur Normalität", sagt sie. Maurer war vom Konzept der Kita so begeistert, dass auch ihre eigenen Kinder den Vogelshof besuchten. Ebenso bestärken Rückmeldungen aus der Grundschule das Team: "Oft hören wir, dass unsere Kinder eine sehr hohe soziale Kompetenz mitbringen", sagt Markus Hösel nicht ohne Stolz.
Feier zum 30-jährigen Bestehen
Ein großes Wiesenfest unter dem Motto "Vielfalt in der Kita" steigt an diesem Samstag, 23. Juni, von 15 bis 18 Uhr an der Kita Vogelshof, Bukarester Straße 9, erreichbar mit den Straßenbahnlinien 3 und 5, Haltestelle „Wiener Ring“. Es gibt zahlreiche Aktionen wie eine Hüpfburg, eine Tombola und Kinderschminken, auch ein Jongleur und eine Märchenerzählerin sind vor Ort. Außerdem steht zum Jubiläum ein Fachtag "Vielfalt in der Kita" an. Dieser findet am 10.Okober 2018 statt. Mehr Infos unter www.kita-vogelshof.de