
Der 1902 geborene Werner Heyde war eine bekannte Persönlichkeit. Er hatte in der Domstadt Medizin studiert und an der Universitäts-Nervenklinik von 1930 bis 1934 als Stationsarzt der Männerstation gearbeitet. Seit 1932 Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie an der Julius-Maximilians-Universität, avancierte er 1939 zum Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde und zum Direktor der Nervenklinik in der Füchsleinstraße.
Heydes Karriere ließ sich weniger durch wissenschaftliche Arbeiten als durch seine Tätigkeit bei der SS und durch die Rückendeckung des SS-Reichsführers Heinrich Himmler erklären. Die SS übertrug dem Hauptsturmführer die Leitung der Sanitätsabteilung ihrer Totenkopfverbände. Als SS-Arzt führte Heyde ab 1936 auch erbbiologische Untersuchungen an KZ-Häftlingen durch.
Vom Sommer 1940 bis zum Dezember 1941 wurde er zu einem der Haupttäter des Dritten Reiches. In diesen 18 Monaten war er als medizinischer Leiter und Obergutachter der Tarnorganisation „T4“ für die Planung und Durchführung der so genannten „Aktion T4“ und der „Sonderbehandlung 14 f 13“ verantwortlich. Im Klartext: für die Massentötung von rund 100 000 psychisch kranken Heilanstalts-Insassen und KZ-Häftlingen.
„Bei der Fahrt durch Würzburg bin ich aus dem fahrenden Lkw herausgesprungen“
Werner Heyde Psychiatrie-Professor und Euthanasie-Gutachter
Von den unter seiner Federführung Ermordeten standen viele kurz vor der Entlassung oder waren lediglich wegen eines Nervenzusammenbruchs in Behandlung. Heyde und seinen Mittätern galten sie als „lebensunwert“. Durch seine Unterschrift auf Gutachten schickte er sie in berüchtigte Tötungsanstalten wie Hadamar.
Nach dem Ende dieser Tätigkeit, die ihn oft nach Berlin geführt hatte, konnte sich Heyde verstärkt wieder seinen Würzburger Aufgaben als Professor und Klinikdirektor zuwenden. Unter seiner Anleitung schrieb der Würzburger Medizinstudent Joachim Haase 1942 eine Arbeit über die „Sterblichkeit und Lebenserwartung der männlichen Geisteskranken in Franken“ – ein angesichts der Aktivitäten Heydes mehr als makabres Thema.
Das Kriegsende erlebte Heyde, mittlerweile zum SS-Standartenführer aufgestiegen und Träger des Totenkopfrings, als Chef der SS-Lazarettabteilung Würzburg. Nach der Zerstörung der Stadt am 16. März 1945 war die Abteilung nach Norddeutschland ausgelagert und im dänischen Garsten unter Heydes Leitung neu errichtet worden. Dort geriet er in Gefangenschaft. Am 28. Mai 1945 brachten ihn die Briten in das Lager Faarhus in Dänemark.
Von Oktober 1945 bis zum Februar 1947 war Heyde in Lagern bei Neumünster und Paderborn in der britischen Besatzungszone interniert. Während dieser Zeit trat er unter seinem richtigen Namen auf, trug weiterhin die Uniform der Waffen-SS und hielt Vorträge über Fragen der Psychiatrie und Neurologie. Er lernte mehrere Juristen und Mediziner aus Schleswig-Holstein kennen, Internierte wie er, die ihm später noch hilfreich zur Seite stehen sollten.
Haftbefehl
Erst im Oktober 1946 erließ die Strafkammer des Landgerichts Frankfurt einen Haftbefehl wegen der Tötung von Geisteskranken gegen Heyde. Nach der Auslieferung an die deutsche Justiz wurde er am 13. Februar 1947 in Frankfurt in Untersuchungshaft genommen. Anfang April forderte ihn die Verteidigung im Nürnberger Ärzteprozess als Zeuge an.
Schon bei der Hinfahrt per Bahn merkte Heyde, dass die Bewachung durch amerikanische Soldaten nur lax war. Am 25. Juli 1947 sollte er per Lkw von Nürnberg nach Frankfurt zurückgebracht werden. Da Heyde angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe nichts Gutes von der deutschen Justiz erwarten konnte, entschloss er sich zur Flucht, die er später so beschrieb: „Der Transport erfolgte mit einem Lkw, der hinten offen war. Die Überwachung hatte ein amerikanischer Soldat. In Würzburg wurde getankt. Dabei erklärte uns der amerikanische Soldat, dass unmittelbar hinter Würzburg eine weitere Pause eingelegt werden würde. Der Soldat setzte sich dann zu dem Fahrer, so dass wir hinten ohne Bewachung waren. Bei der Fahrt durch Würzburg bin ich dann aus dem fahrenden Lkw herausgesprungen.“
Ohne sich in Würzburg lange aufzuhalten, schlug sich Heyde auf Nebenwegen zu Fuß nach Norden durch, um möglichst schnell aus der amerikanischen Besatzungszone herauszukommen. In Norddeutschland tauchte Heyde mit dem falschem Namen „Fritz Sawade“ unter und begann in Flensburg eine zweite Karriere als vielbeschäftigter ärztlicher Gutachter. Unter anderem fertigte der auf der Fahndungsliste stehende NS-Massenmörder Gutachten für Gerichte an. Er kam bald zu Wohlstand und legte sich einen Borgward-Pkw zu.
Erst im November 1959 näherte sich das Versteckspiel seinem Ende. Zahlreiche Kollegen hatten von seiner wahren Identität gewusst, aber geschwiegen. Einer dieser Kollegen war Helmuth Reinwein, Universitätsprofessor und Direktor der Medizinischen Universitäts- und Poliklinik in Kiel. Reinwein hatte seine Karriere als Internist wie Heyde in Würzburg begonnen und dort bis 1933 als Oberarzt an der Universitätsklinik für Innere Medizin gearbeitet.
Da Reinwein seine Beziehungen nach Würzburg nie abreißen ließ, erfuhr er nach 1945, dass „Professor Heyde auf dem Transport [...] in Würzburg entsprungen“ war, was „nicht nur Würzburg“, sondern „sehr große Kreise“ gewusst hätten. Dies sagte Reinwein im Februar 1961 vor einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Kiel, der klären sollte, wie einer der Haupttäter des Dritten Reiches über ein Jahrzehnt lang unentdeckt bleiben konnte.
Im Herbst 1959 war Reinwein endlich bereit, sein Schweigen zu brechen. Bekannten teilte Heyde am 4. November 1959 mit, man beabsichtige ihn zu denunzieren. Deshalb müsse er am nächsten Tag nach Würzburg fahren, wo er seinen früheren Kollegen Hans Rietschel treffen wolle, der auf Reinwein beruhigend einwirken solle. Heyde verließ am 5. November, einem Donnerstag, gegen 16 Uhr Flensburg mit seinem Borgward Isabella in Richtung Würzburg, wo er am nächsten Tag ankam.
Er suchte Rietschel, den ehemaligen Direktor der Universitäts-Kinderklinik, auf, der entsprechend seinem Wunsch tatsächlich einen beruhigen Brief an Reinwein schickte. Warum Rietschel, der kein fanatischer Nationalsozialist gewesen war, diesen Wunsch erfüllte, ist bis heute ungeklärt.
Die folgende Nacht verbrachte Heyde in einem Würzburger Hotel; den Meldeschein unterschrieb er mit „Sawade“. Am 7. November fuhr er nach Frankfurt, um sich mit einem Rechtsanwalt zu beraten. Am selben Tag löste der Flensburger Oberstaatsanwalt die Fahndung aus.
Zwei Staatsanwälte
Erst am 10. November wurde der Besuch Heydes in Würzburg offiziell bekannt. Ein Kriminaloberassistent befragte Hans Rietschel, doch der meinte zunächst, weder einen Heyde noch einen Sawade zu kennen, räumte dann jedoch ein, Heyde habe ihn einige Tage zuvor besucht. Aus ethischen Gründen könne er über das Gespräch keine Angaben machen. Als am selben Tag zwei Staatsanwälte in der Tür standen, gestand Rietschel, tatsächlich den gewünschten Brief geschrieben zu haben.
Am 12. November stellte sich Heyde in Frankfurt der Justiz und noch am gleichen Tag wurde er in das Untersuchungsgefängnis in der Würzburger Ottostraße eingeliefert. Bei dieser Gelegenheit entstand ein Pressebild, das dem Maler Gerhard Richter 1965 als Vorlage für das Gemälde „Werner Heyde im November 1959, als er sich den Behörden stellte“ diente. Das Bild wurde im November 2006 für 2,8 Millionen Dollar bei Christies in New York versteigert. Ein ungenannter amerikanischer Privatsammler erwarb es nach einer erbitterten Bieterschlacht, an der sich Museen aus den USA und Asien beteiligten.
Werner Heyde wurde nie verurteilt. Kurz vor Beginn des gegen ihn angestrengten Prozesses erhängte er sich am 13. Februar 1964 in der Zelle.