Der Soldat mit dem Oberlippenbart lehnt sich lässig zurück, hält Distanz zu den Kameraden. Er macht einen zufriedenen Eindruck – vielleicht auch deshalb, weil er nicht, wie viele andere, in einem schlammigen Schützengraben an der Front liegen muss, wo ihn jeden Moment eine feindliche Kugel treffen kann.
Das Foto ist vor 100 Jahren, im Herbst 1915, in Fournes-en-Weppes aufgenommen worden, einem Dorf in der Nähe der nordfranzösischen Stadt Lille. Es zeigt den 26-jährigen Meldegänger Adolf Hitler. Seit März 1915 ist er mit dem Königlich Bayerischen Reserveinfanterieregiment 16 an diesem Frontabschnitt eingesetzt.
Anderthalb Jahre lebt er in dem Ort und im benachbarten Dorf Fromelles. Einige Kilometer weiter ziehen sich die Schützengräben entlang und liegen sich bayerische, britische und australische Soldaten gegenüber. Hitlers Arbeit spielt sich meist hinter den Gräben ab, auch als am 19. und 20. Juli 1916 die Schlacht von Fromelles tobt, die mit einem eindeutigen Sieg seines Regiments endet. Nur relativ wenige bayerische Soldaten fallen in dieser Schlacht; bei den australischen Gegnern werden fast 2000 Tote gezählt. Es ist der schwärzeste Tag in der Geschichte der australischen Streitkräfte.
Später wird die nationalsozialistische Propaganda Adolf Hitler zum guten Kameraden hochstilisieren, der die Qualen der Frontsoldaten teilte. Tatsächlich hat Hitler nur einen Sturmangriff mitgemacht, am 29. Oktober 1914 bei Ypern; den Rest des Krieges verbringt er als Meldegänger beim Regimentsstab, also hinter der Front. In dieser Eigenschaft muss er hauptsächlich Mitteilungen zu den Hauptquartieren der verschiedenen Bataillone eines Regiments bringen. Verglichen mit der Todesgefahr im Graben erlebt Hitler den Krieg auf relativ sicherem Terrain.
In seinem Buch „Hitlers erster Krieg“ schreibt Thomas Weber: „Das bedeutete nicht, dass Hitler nie bis an die Front zu einem Schützengraben laufen musste, aber normalerweise war das nicht seine Aufgabe. Die größte Gefahr für ihn waren hinter der Front einschlagende Artilleriegeschosse, nicht jedoch Gewehr- oder Maschinengewehrfeuer oder die anderen großen Bedrohungen für das Leben der Frontsoldaten, darunter Minenexplosionen unter den Schützengräben.“
Auch in Hitlers Regiment blicken die Frontkämpfer eher verächtlich auf „Etappenhengste“ wie Hitler im Hauptquartier. Einer der Soldaten sieht den Unterschied sofort, nachdem er in den Stab versetzt worden ist. Im April 1915 schreibt er, wie gut es ihm dort geht, mit einer „Maß Bier unterm schattigen Nussbaum“. „Die Realität in den Schützengräben und die Kameradschaft unter den Frontsoldaten waren ihm unbekannt“, bilanziert Thomas Weber Hitlers Kriegserfahrungen.
Das Leben in den Gräben, das Hitler eben nicht teilen muss, ist oft unerträglich. Wenn es regnet, sind die Unterstände überflutet, Ratten und Läuse quälen die Soldaten in ihren Erdhöhlen, die gelegentlich einstürzen, zwischen den Linien liegen Tote beider Seiten, die nicht geborgen werden können und langsam verwesen. Uniformen und Stiefel sind durchnässt.
Ein 18-Jähriger, der Würzburger Jura- und Philosophiestudent Richard Rosenburg, hat das im Herbst 1914 erlebt. Auch er war in Fournes-en-Weppes und Fromelles eingesetzt – doch im Gegensatz zu Hitler nicht in einer warmen Unterkunft mit Ofen und bayerischem Bier weit hinter der Front. Am 17. November 1914 beschreibt Rosenburg eine Nacht im Graben in seinem Tagebuch: „Es war eine scheußliche Nacht, Regen, Nässe, Dreck und Kälte. Der Dreck! Was man anfasst, Dreck. An den Fingern klebt er, der Rock und die Hose sind eine dicke Kruste. Tornister, Brotbeutel, was man anfasst wird Dreck. Die ganze Atmosphäre wie dreckgeschwängert.“
Dennoch: Der 18-Jährige will unbedingt hier sein, hier, wo es ungemütlich und gefährlich ist, wo er sich im Kampf Mann gegen Mann beweisen kann. Völlig schockiert ist er deshalb, als am 2. November 1914 in Fromelles ein Unteroffizier andeutet, dass er hinter die Front abkommandiert werden könnte. Die Worte „lagen mir wie lähmendes Gift in den Gliedern“, steht in seinem Tagebuch. „Hinter die Front auf 'Drückposten?, während feindliche Granaten meine treuen Brüder zerreißen! Mir unmöglich vorzustellen!“ Als er wider Erwarten doch an der Front bleiben darf, freut er sich.
Eine Woche später wird Rosenburg mit Ruhrverdacht in ein Lazarett eingeliefert. Obwohl er noch nicht ganz gesund ist, drängt er nach drei Tagen zurück zu seinen Kameraden. Der Arzt will ihn noch dabehalten. „Sie sind der Erste, der darauf besteht rauszukommen“, sagt er kopfschüttelnd. Als Rosenburg wieder in Fromelles ankommt, ist er erleichtert: „Unsere Leute kommen gerade aus dem Graben. Beinahe hätten sie heute gestürmt. Gott sei Dank haben sie auf mich gewartet!“
Richard Rosenburg ist Jude. Sein selbstverständlicher Patriotismus erscheint heute schwer verständlich, doch damals glaubte er wie viele andere Juden, durch vorbehaltlose Opferbereitschaft beweisen zu können, dass die deutschen Juden ihr Land ebenso liebten wie die anderen. Der 18-Jährige gehört der Würzburger jüdischen Studentenverbindung Salia an, die im Ersten Weltkrieg sieben ihrer 15 aktiven Mitglieder verliert.
Auch der Gefreite Adolf Hitler macht Bekanntschaft mit patriotischen Juden. Thomas Weber schreibt, dass jüdische Soldaten in seinem Regiment gut integriert waren. Möglicherweise erhielt Hitler sein Eisernes Kreuz I. Klasse sogar auf Vorschlag eines jüdischen Vorgesetzten, des Leutnants Hugo Gutmann.
Der Frontsoldat Richard Rosenburg ist einer von 12 000 deutschen Juden, die im Ersten Weltkrieg sterben. Er fällt am 4. Dezember 1914 an der russischen Front, wohin seine Einheit inzwischen verlegt worden ist, bei seinem zweiten Sturmangriff. Sein Tagebuch wird 1917, zu seinem dritten Todestag, von der Salia veröffentlicht. Der Meldegänger Adolf Hitler überlebt. Als im Zweiten Weltkrieg Frankreich erobert ist, besucht er am 23. Juni 1940 Fromelles und Fournes-en-Weppes. Mit dabei sind einige Angehörige seines Regiments aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Propaganda-Buch der Nazis verbreitet ein bei dieser Gelegenheit aufgenommenes Foto zusammen mit einem Bild, das 1915 an derselben Stelle entstand, in einer Massenauflage.
Bei Fromelles liegt heute ein großer australischer und britischer Soldatenfriedhof, auf dem Tausende von Toten bestattet wurden. Die letzten 250 wurden erst 2007 von Archäologen der Universität Glasgow in einem bis dahin unbekannten Massengrab entdeckt und umgebettet. Das Dorf, in dem 860 Menschen leben, erinnert im „Musée de la bataille de Fromelles“ an die Schlacht vom Juli 1916.
Bei Fournes-en-Weppes befindet sich ein deutscher Soldatenfriedhof mit 1916 Gefallenen. Im Zentrum des 2100-Einwohner-Ortes erhebt sich ein imposantes Kriegerdenkmal. Am Ortsrand steht ein kleines Kapellchen, gewidmet Unserer Lieben Frau von Lourdes. Auch Adolf Hitler und Richard Rosenburg müssen hier des Öfteren vorbeigekommen sein – Hitler auf dem Weg in sein warmes Quartier, Rosenburg auf dem Weg zu den Gräben an der Front.
Das Buch zum Thema: Die Geschichte des Soldaten Richard Rosenburg wird ausführlich in Roland Flades neuem Buch „Jüdische Familiengeschichten aus Unterfranken“ erzählt. 304 Seiten, 138 Abbildungen, darunter viele in Farbe, 14,95 Euro.
Ich bin recht erstaunt, das Roland Flade das als "möglicherweise" beschreibt.
Auch in Wikipedia (immer doch auch mit Vorsicht zu genießen) ist die Verbindung Eisernes Kreuz Gutmann nicht relativiert, hier wird sogar zusätzlichvon einem "Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit" geschrieben. Dieser Begriff ist in anderen Quellen allerdings so nur in Zusammenhang mit einem eher fraglich mildem Urteil nach dem 1. Putschversuch zu finden.
Es scheint da Flade leider etwas an Historikerformat zu mangeln.
Also hatte Deutschland später damit einen in Deutschland eingebürgerten Reichskanzler mit Migrationshintergrund, der offensichtlich auch ein ex-fahnenflüchtiger Flüchtling war. Wow.