Sehr geehrter Herr Opaschowski, ein bisschen sind Sie wie der Weihnachtsmann. Alle Jahre wieder, irgendwann kurz vor Silvester, kommen Sie in unsere warme Stube – nicht durch den Kamin, sondern über die Zeitung – mit reichlich Gaben im Gepäck. Ich meine das ganz unironisch. Zwar meinte Albert Einstein einmal lapidar: „Ich denke nie an die Zukunft. Sie kommt früh genug.“ Doch für viele gehören Antworten auf die Frage „Was kommt?“ zum Jahreswechsel wie Geschenke zu Weihnachten. Seit über 40 Jahren versuchen Sie als Zukunftsforscher mit Ihren Thesen und Prognosen diesen Wunsch nach einem Blick auf das, was kommt, auf wissenschaftliche Art zu befriedigen. Doch in Zeiten wie diesen ist Ihr Job sicherlich kein einfacher.
Im Detail weiß ich nicht, wie Sie zu Ihren Einschätzungen gelangen. Aber sicher verzichten Sie auf astrologischen Hokuspokus, Vogelschauen und Bleigießen. Sie stützen sich eher auf eigene Beobachtungen, Fakten und Meinungsforschung. In der Vergangenheit lagen Sie oftmals gar nicht schlecht. So sprachen Sie bereits 1980 von „Compunikation“.
Der Begriff hat sich nicht durchgesetzt, aber das, was er beschreibt: Kommunikation per Computer und die damit entstandene Chance des „Überalldabeiseins“, ohne dafür die eigenen vier Wände verlassen zu müssen. Schon 1990 erkannten Sie richtig, dass es keinen Widerspruch mehr darstellt, „politisiert und gleichzeitig politisch desillusioniert“ zu sein. 1994 sprachen Sie von „drohenden Flüchtlingsströmen“ und 1998 vom „gläsernen Konsumenten“, der im Internet seine Spuren hinterlässt. Sie erklärten auch: „Der größte Gefährdungsfaktor für den sozialen Frieden in Deutschland wird der Konflikt zwischen Einheimischen und Ausländern und zwischen Christen und Muslimen sein.“ Das sahen Sie schon im Jahr 2002 – und sollten Recht behalten.
Ich hoffe, dass Sie auch diesmal in einem Punkt richtig liegen: Trotz Terror, trotz Euro- und Europa-Krise, trotz der besorgniserregenden weltpolitischen Lage und obwohl laut ihren Worten angesichts der schleppenden Integration von Flüchtlingen eine Mehrheit „desillusioniert ist“, prophezeien Sie nun ein Ende der „German Angst“.
„Die Krisenstimmung“, glauben Sie, „normalisiert sich langsam wieder.“ Ihre Prognose fußt auf einer von Ihnen selbst in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage, wonach zwar der Anteil der Optimisten im Land nicht gestiegen, der der Pessimisten aber gesunken ist: So sagten zwar immerhin noch 36 Prozent der Deutschen, sie sähen dem kommenden Jahr mit großer Skepsis und gemischten Gefühlen entgegen. Vor einem Jahr hatten sich allerdings noch 50 Prozent so geäußert. Zudem lasen Sie aus weiteren Zahlen: „Beim Gedanken an das Jahr 2017 beweisen die Deutschen durchaus Krisenresistenz gegenüber Terrordrohungen.“
Nun fand die Befragung noch vor dem Terroranschlag in Berlin statt. Vielleicht haben Sie sich auch schon gefragt, ob das Ergebnis jetzt anders ausfallen würde. Das meinte ich, als ich feststellte, dass ihr Job auch kein einfacher ist. Ereignisse scheinen heutzutage möglich, die man vor einigen Jahren noch für unmöglich gehalten hat.
Und es sind Ereignisse von solcher Wucht – wie die Silvester-Nacht vor einem Jahr oder nun der Berliner Terror –, dass sie das Potenzial haben, eine Stimmung im Land völlig zu drehen und möglicherweise Konsequenzen nach sich ziehen, die man eben nicht voraussagen kann.
Zukunftsforschung, so stelle ich es mir vor, dürfte vor diesen Hintergründen noch komplizierter sein. Die Zukunft ist eben auch nicht mehr das, was sie mal war: Neben allen Unwägbarkeiten, die es schon immer gab, kommt heutzutage mehr denn je der Faktor Angst hinzu. Ist Angst kalkulierbar? Sie als „Vollblutwissenschaftler“, so nannte Sie einmal die Zeitung „Die Welt“, wird diese Frage sicher umtreiben. Und was ist mit den anderen Faktoren, die ihren Prognosen zugrunde liegen? Beobachtungen sind schnell überholt. Meinungen sind subjektiv. Und über die Überzeugungskraft von Fakten müssen wir im Postfaktischen nicht reden.
Voltaire wird das Zitat zugesprochen: „Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.“ Diese Illusion haben heute nur noch die wenigsten. Was raten Sie also, wie wir damit umgehen sollen? Wie sollen sich insbesondere Medien und Politik verhalten? Nicht an die Zukunft denken, wie es Einstein vorgab zu tun, und einfach gar nicht zu reagieren, dürfte für Sie keine Option sein. Für Medien und Politik auch nicht. Gerade im Wahljahr, das nun kommt.
Vieles kann sich im neuen Jahr ändern – zum Positiven oder zum Negativen, je nachdem, was passiert und wie wir letztendlich darauf reagieren. Sicher scheint nur: Auch 2017 kommt der Weihnachtsmann. Und Opaschowski. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute für das neue Jahr.
Mit freundlichen Grüßen
Benjamin Stahl