Ossi-Wessi-Denke? „Ach was“, sagt Sven Schönherr. „Das ist Schnee von gestern. Außerdem ist die Geschichte, die wir miteinander haben, viel länger als die, die wir 41 Jahre nicht hatten.“ Schönherr ist einer der vielen Ostdeutschen, die heute in Würzburg leben. 1991, also kurz nach der Einheit, kam der 43-Jährige in die Stadt, der er mittlerweile mehr abgewinnen kann als seinem Geburtsort Chemnitz. „Würzburg ist schöner.“
Der Ostdeutsche ist vielleicht etwas offener und leichter zugänglich, macht er einen Unterschied zu seinen mittlerweile nicht mehr neuen Mitbürgern fest. „Der Franke braucht halt Zeit zum Auftauen“, erzählt Schönherr beim Gespräch im Uni-Café. Doch nach seinen Erfahrungen ist dieser weitaus weniger mürrisch, als ihm immer nachgesagt wird, sondern überwiegend sogar freundlich.
„Bis auf ein paar blöde Ossi-Witze oder Anspielungen“ hat Schönherr, der seine Brötchen in einem Logistikunternehmen verdient, nichts Negatives ob seiner Herkunft erlebt. Diese lässt sich bei dem Zwei-Meter-Mann noch heute nicht überhören, wenngleich er sich um ein „gedämpftes Sächsisch“, wie er sagt, bemüht.
Der typische, wie häufig bespöttelte Dialekt sowie seine Herkunft helfen ihm anfangs sogar. Gerade, weil er ein „Ostler“ war, bekommt er hier seine erste Unterkunft auf einem Bauernhof in Reichenberg. „Damals habe ich mich alleine gefühlt, hatte keine Verwandten und keinen Anlaufpunkt“. Auch zu Studienbeginn hilft der sächsische Zungenschlag: zur ersten Clique gehören fast ausschließlich Ost-Studenten aus Thüringen und Sachsen. Über vertraute Dialekte findet man zusammen.
Dieser macht auch die Würzburger neugierig. „Die ersten drei Jahre musste ich oft meine Geschichte erzählen.“ Seine Geschichte beginnt 1971 in Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz damals heißt, und setzte sich fort in einer Kindheit und Jugend im Erzgebirge und im Vogtland. „Mir ging's nicht schlecht“, sagt Schönherr, wobei man manches, das man im Westfernsehen sah, auch gerne gehabt hätte. „Aber als Kind hinterfragt man nicht soviel.“ Die Eltern, beide in der DDR geboren, sind systemtreu, der Vater Leiter eines Ferienheimes.
Während die Mauer fällt, ist Schönherr in einer Ausbildung zum Maschinenbauer, bei der man gleichzeitig Abitur machen konnte. „Die Wendezeit war aufregend und verwirrend, denn es wusste ja keiner so recht, wo's langgeht“, erinnert er sich.
Für Schönherr geht's erst mal planmäßig voran. Er beendet die Ausbildung, macht Abitur und will Jura studieren. Er bewirbt sich an Unis, auch in Ostdeutschland. In den Westen will er nicht unbedingt, landet aber in Würzburg. Die Studienzeit ist intensiv, vor allem außerhalb der Uni. Er erinnert sich an Feiern am Graf-Luckner-Weiher und ans Katerfrühstück im „Haupeltshofer“.
Doch nach vier Jahren geht's „mit dem Studium den Bach runter“, er arbeitet ab jetzt für besagte Logistikfirma – und wird immer verwurzelter, sein Freundeskreis mit Würzburgern wächst, er beginnt den Frankenwein zu schätzen.
Sein Interesse an neuen Leuten – ob Ex-Ostler oder Würzburger – ist ebenso groß wie an der Stadt und ihrer Geschichte. „Die Festung ist der Hammer“ sagt er. Er informiert sich bei Führungen, geht zum „Tag des offenen Denkmals“, kennt den Kulturspeicher. „Das alles sagt mir was über die Stadt.“ Seine Lieblingsorte sind eher die etwas ruhigen wie das Lusamgärtchen, „wo man in Ruhe mal ein Buch lesen kann.“ Der Single, der in Versbach wohnt, hat's gern gesellig wie auf Weinfesten oder in Heckenwirtschaften. „Ich treffe immer jemanden, den ich kenne“, beschreibt er seine gelungene Ost-West-Integration.
Schönherr pflegt noch Verbindungen zur Heimat. „Doch ich bin Würzburger, hier habe ich über die Hälfte meines Lebens verbracht.“ Was ihm von der DDR geblieben ist? Zumindest der Führerschein – ausgestellt am 2. Oktober 1990, einen Tag vor der Wiedervereinigung.