
Boris Palmer ist ein bei seinen Wählerinnen und Wählern beliebter Kommunalpolitiker. Bei seinen Parteifreunden indes eckt der grüne Oberbürgermeister von Tübingen regelmäßig an. Als "rassistisch und abstoßend" hat Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock die jüngsten Äußerungen Palmers über den Fußballer Dennis Aogo gebrandmarkt. Der 49-Jährige soll nun aus der Partei ausgeschlossen werden. Vor seiner Lesung beim Literaturfestival MainLit am 24. Juni in Würzburg spricht Palmer über seinen Hang zum Provozieren, seine Kritik am gesellschaftlichen Diskurs und die Beziehung zu seinem Vater.
Boris Palmer: Ich bitte um Verständnis. Mit meinem Anwalt Rezzo Schlauch habe ich vereinbart, dass ich mich zum aktuellen Parteiordnungsverfahren nicht mehr öffentlich äußern werde.
Palmer: Das habe ich schon oft gesagt. Ich bin überzeugter Ökologe. Keine andere Partei in Deutschland stellt den Umweltschutz und den Klimaschutz an die erste Stelle in der Politik. Deshalb gibt es für mich keinen anderen Platz im Parteiensystem.
Palmer: Gar nichts. Ich stehe nicht morgens auf und überlege mir, wen könnte ich provozieren. Sondern ich habe politische Überzeugungen, sachliche Thesen, dafür trete ich ein. Ich bin ein Freund der offenen Gesellschaft, des demokratischen Streits. Helmut Schmidt hat einmal gesagt, eine Demokratie ohne Streit ist keine. Ich finde: Wer sich von anderen Auffassungen als der eigenen bereits provoziert fühlt, der sollte sein Demokratieverständnis überprüfen.
Palmer: Ja, natürlich. Aber ein Kompromiss setzt erst einmal einen sachlichen Austausch über Differenzen voraus.
Palmer: Austausch gibt es genug. Die Frage ist, ob er produktiv, ob er fair, ob er sachorientiert abläuft, ob man mit dem Anspruch, selbst die Wahrheit zu besitzen, in Debatten reingeht oder ob man den Gedanken zulassen kann, dass vielleicht auch andere Recht haben. Die Geschichte zeigt: Es wird immer dann gefährlich, wenn Leute meinen, sie allein hätten die Wahrheit und die Moral auf ihrer Seite. Und daraus den Anspruch ableiten, andere Auffassungen sind wie Ketzerei zu behandeln. Das gibt es leider auch in modernen Gesellschaften, in Demokratien. Da gilt für mich: Wehret den Anfängen.

Palmer: Nehmen Sie mal die Corona-Debatte. Da wurde lange Zeit jedem, der die Lockdown-Strategie der Bundesregierung kritisierte, vorgeworfen, er wolle in Wahrheit Menschen in Altenheimen sterben lassen. Das war aber gar nicht der Fall. Es gab vielfältige Vorschläge, wie man das hätte besser machen können als immer nur Lockdowns zu verhängen. Es wird immer häufiger versucht, Debatten zu entscheiden, in dem man andere Auffassungen denunziert anstatt nach dem besseren Argument zu suchen. Das besorgt mich.
Palmer: Es gibt oft die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen. Das ist hier der Fall. Sie haben natürlich Recht. Einerseits wird das Unsagbare sagbar, im Schutz der Anonymität. Gerade Rechtsradikale handeln so. Andererseits gibt es aber eben auch den Versuch, den Korridor des Sagbaren immer weiter einzuengen. Beides ist falsch.
Palmer: Sahra Wagenknecht zum Beispiel beschreibt in ihrem Buch "Die Selbstgerechten" diese Lifestyle-Linken, die die Wahrheit für sich beanspruchen und andere Auffassungen gar nicht mehr im Diskurs zulassen wollen. Oder lesen Sie die Französin Caroline Fourest, die zurecht darauf hinweist, dass die neuen Rassisten die Antirassisten sind, weil sie ihre spezielle Theorie der Antidiskriminierung für allgemeingültig erklären wollen.

Palmer: Das ist kein Gegenbeweis, den Sie da bringen. Zum Glück gibt es noch Leute wie Wagenknecht, die gegen die neue Illiberalität von Links aufstehen. Das beweist aber nicht, dass es den Druck nicht gibt. Im Gegenteil, viele sagen schon nicht mehr, was sie denken, weil sie sich dem Druck nicht aussetzen wollen, den Wagenknecht ja gerade aus ihrer Partei erlebt.
Palmer: Ich habe nicht gesagt, dass nicht diskutiert wird. Ich habe gesagt, es wird der Versuch unternommen, sich nicht auf eine sachliche Debatte einzulassen, sondern Andersdenkende stattdessen auszugrenzen und herabzuwürdigen. Das geschieht rechts wie links gleichermaßen. Das ist die Krux der Identitätspolitik: Extreme schaukeln sich auf, die eigentliche Debatte wird immer mehr an den Rand gedrängt.
Palmer: Die sind sicher so etwas wie der Zündstoff an der Lunte, sie befördern die Eskalationsspirale ganz erheblich.
Palmer: Darüber denke ich immer wieder mal nach. Die Frage aber ist, ob es besser wird, wenn man diesen Debattenraum den anderen überlässt. Daran habe ich auch Zweifel. Lieber wäre es mir auch, die Leute würden meine Bücher lesen, statt mich an Halbsätzen zu beurteilen.

Palmer: Die Identitätspolitik ist nur ein Kapitel, an dem ich aufzeige, wie sich eine Weltsicht in unserer Gesellschaft ausbreitet, die Realitäten fröhlich ausblendet. Dasselbe zeigt sich bei Menschen, die den menschengemachten Klimawandel abstreiten, Windräder für sinnlose Vogelschredderanlagen halten, aber auch im vollkommen irrational übersteigerten Brandschutz und Datenschutz oder bei den Fahrverboten für Dieselfahrzeuge. Ich versuche in meinem Buch zu zeigen, woher diese Irrtümer kommen und wie wir sie im Sinne einer neuen Aufklärung aus der Welt schaffen können. Kurt Schumacher hat einmal gesagt: 'Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.'
Palmer: Selbstverständlich ist mein Vater für mich eine wichtige Bezugsperson. Aber die Rolle des Vorbildes sollte man, wenn man selber bald 50 wird, nicht beim eigenen Vater suchen.
Palmer: Es gibt politische Persönlichkeiten, von denen ich zu lernen versuche. Zum Beispiel Winfried Kretschmann, der es, wie ich finde, in herausragender Weise schafft, inhaltliche Klarheit mit einer verständlichen Ansprache für alle Bürger zu verbinden. Das ist sehr selten.
Palmer: Die Frage ist, wie man Sieg und Niederlage definiert. Er hat sehr oft kandidiert, ohne Chance, ein Amt zu erreichen, sondern um seine Anliegen zu transportieren: gegen den Untertanen-Geist der damaligen Zeit, für mehr Bürgerbeteiligung oder auch für den Umweltschutz. Da hat er schon in den 60-er Jahren Erfolg gehabt. Man könnte fast sagen, er war ein erster Grüner schon lange vor deren Gründung. An seinem Marktstand waren Plastiktüten verboten. Er hat niemanden bedient, der keinen Korb dabei hatte.
Palmer: Das habe ich bereits angekündigt, weil ich gerne das begonnene Klimaschutzprojekt zu Ende bringen möchte. Für dieses Thema bin ich in die Politik gegangen. Ich sehe eine sehr gute Chance, dass Tübingen 2030 die erste Stadt in Deutschland ist, die Klimaneutralität erreicht. Daran weiter mitzuwirken, wäre für mich eine politische Erfüllung.
Palmer (lacht): Ich bin Realpolitiker. Und fühle mich in der Kommunalpolitik richtig aufgehoben.
Einerseits gibt er vor, für eine Diskussion in der Sache einzutreten. Er bemüht sogar das Zitat: „Eine Demokratie ohne Streit ist keine.“
Aber sobald dann genau das passiert und eine Auseinandersetzung mit seinen – durchaus fragwürdigen Thesen und Äußerungen – im öffentlichen Diskurs stattfindet, dann ist das aus seiner Sicht plötzlich ein höchst antidemokratischer Prozess, der im Keim erstickt werden muss. Um unsere offene Diskussionskultur und letztendlich unsere Demokratie zu bewahren …
Eine derart erbärmliche, realitätsverzerrende „Argumentation“ (eigentlich ist es nur „Mimimi“) kennt man normalerweise nur von den Rechten, die ihren Opferrollenfetisch ausleben.
Sorry, aber der Mann ist ein Blender, ein Bauernfänger, ein gnaden- und skrupelloser Populist und ein Heuchler vor dem Herrn … und das Interview hat das aus meiner Sicht schön aufgezeigt. Danke dafür!
Zweitens: Es ist doch gerade ein Qualitätsmerkmal unserer Gesellschaft, dass jeder erst mal alles öffentlich absondern kann, was ihm durch die Neuronen wabert. Man darf aber das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht mit der Pflicht zur widerspruchsfreien Hinnahme verwechseln.
Für sich selbst fordert man uneingeschränkte Meinungsfreiheit ein – kritisiert aber im selben Augenblick pauschal alle, die diese Meinung nicht teilen und bezeichnet sie pejorativ als „lauten Mainstream“?
Man unterstellt jemandem, die Meinungsfreiheit zu unterminieren – mit genau dem Ziel, dass dieser Jemand seine Meinung eben nicht mehr in der bisherigen Form vorbringt!?
Sorry, aber das ist die ultimative Doppelmoral!
Meinungsfreiheit gilt für alle! Und an diesem Punkt könnte/müsste/sollte die Diskussion darüber enden …
Das ist doch Unfug.
Jeder kann seine Meinung äußern und natürlich macht das auch jeder der in Öffentlichkeit steht.
Nur anders als zu früheren Zeiten, als Strauß, Wehner und andere kantigen Typen oft richtig ausgeteilt haben, sind jetzt viele Mimosen im Politikgeschäft unterwegs, die eine Gegenmeinung nicht mehr so aushalten.
Politik lebt auch vom politischen Streit und wer das nicht aushält sollte die politischen Diskurse meiden. Wer grob austeilt muss eben auch grob einstecken können.
_Ich hätte diesen post natürlich auch als Antwort auf einen Mitforisten lazieren können, aber das tue ich prizipiell nicht (mehr).