
Am 1. August 1947 notierte Otto Seidel, der 57-jährige Hausmeister der Universitäts-Augenklinik am Röntgenring, dass das Thermometer 39 Grad im Schatten zeigte und der Wasserstand des Mains ständig sank. „Schlimme Ernteaussichten“ lautete Seidels fatalistisches Resümee. Zehn Tage später hatte sich die Situation nicht geändert: „Nachmittags zu Hause, heiß, sonnig“, schrieb er in sein Tagebuch. „Warum Ausflüge machen? Man bekommt nur Hunger draußen und hat nichts zu essen.“
Vor allem die Kinder litten. „Sehr schmal waren die meisten Jugendlichen geworden“, erinnert sich die damals 26-jährige Biologie-, Chemie- und Erdkundelehrerin Magdalena Edelmann, die in der Oberrealschule am Sanderring unterrichtete, dem heutigen Röntgen-Gymnasium. „Öfters musste ein ohnmächtig gewordener Erstklässler nach Hause gebracht werden.“ Die Eltern konnten ihren Kindern wegen der geringen Lebensmittelzuteilungen, die in diesem Sommer in mehreren Städten zu Demonstrationen führten, kein angemessenes Essen bieten.
Haferflockenbrei
Im Mai 1947 begannen die amerikanischen Besatzer daher mit der Schulspeisung, die meist aus dickem Haferflockenbrei bestand, zunächst für kleinere, später auch für über 18-jährige Schüler. Magdalena Edelmann: „Gelegentlich durfte auch ein hungriger Lehrer 'Essen fassen'.“ Wohl keiner lehnte das Angebot ab.
Otto Seidels zwölfjährige Tochter Maria konnte erst ab März 1947 nach zweijähriger Pause wieder die Schule besuchen; Mit der Straßenbahn fuhr sie gemeinsam mit ihrem siebenjährigen Bruder Walter auf dem inzwischen wieder in Betrieb genommenen Teilstück der Straßenbahn vom Alten Kranen zur Pestalozzischule in Grombühl. Auch hier gab es die nahrhafte amerikanische Schulspeise; Wenn sie mit Kakao angereichert war, schmeckte sie doppelt gut.
Jahre ohne regulären Schulunterricht waren für Buben und Mädchen damals Alltag. „Es gibt wohl keine Stadt in der Bundesrepublik Deutschland, die nach Kriegsende keine einzige intakte Schule mehr besaß“, hat der langjährige Stadtschulrat Heinz Michler die Situation in Würzburg zusammengefasst. Zunächst ging es darum, die nicht völlig zerstörten Gebäude notdürftig instand zu setzen. Noch 1945 konnte die Waltherschule in Heidingsfeld wieder in Betrieb genommen werden, wenig später die Zellerauer, dann die Pestalozzi- und die Schillerschule (Sanderau).
Langsam kam auch der Betrieb der Gymnasien in Gang, wobei das Realgymnasium am Rennweger Ring (heute Siebold-Gymnasium) und die Oberrealschule immerhin über weitgehend intakte eigene Räumlichkeiten verfügten.
Aber: In der Ruinenstadt war ein Gebäude wie das der Oberrealschule viel zu wertvoll, um es allein als Unterrichtsstätte zu nutzen. „Das ganze Haus war nach dem Krieg von ausgebombten Handwerkern, Firmen und Mietern belegt worden“, erinnert sich Magdalena Edelmann. „Wenn man sich auf den Weg zu seiner Klasse machte, kam man an allerlei Läden und Werkstätten vorbei: an Lebensmittel- und Zigarettengeschäften, an zwei Drogerien, einem Strumpf- und Schuhgeschäft.“
Neben einer ihrer Klassen war eine Metzgerei untergebracht; Davor saß ein kleiner Hund und bot jedem Pfötchen an, sehr zur Freude der Erstklässler. Edelmann: „Aber zu kaufen gab es mangels Ware fast nichts, und das wenige ging nur auf Lebensmittelmarken und Bezugsscheine.“
Kino im Schulhaus
Im Oktober 1947 nahmen die Ursulinen den Unterricht in der Augustinerstraße unter großen Schwierigkeiten wieder auf. Noch länger, nämlich bis zum September 1948, dauerte es, bis die Englischen Fräulein in der Annastraße beginnen konnten. Das Haus hatte den Krieg zwar unzerstört überstanden, musste aber 1945 verschiedene Dienststellen der Stadt aufnehmen. Auch das erste wieder eröffnete Nachkriegs-Kino, die Mozart-Lichtspiele, befand sich hier.
Den Kinogängern knurrte der Magen. Im August 1947 notierte Otto Seidel, dass Vieh notgeschlachtet wurde, weil wegen des fehlenden Regens kein Futter gewachsen war: „Wasser fehlt auf den Dörfern, um Gemüse zu begießen; große Not.“
Im September hatte sich die Lage nicht gebessert: „Heißes, sonniges Wetter, kein Regen, die Bauern können die nächste Ernte nicht aussähen. Die große Kartoffelernte geht im Boden in der Hitze verloren. Große Hungersnot im Anzug.“ Noch im November führte der Main wegen der langwährenden Dürreperiode so wenig Wasser, dass die Steine auf dem Grund in der Mitte des Flusses zu sehen waren.
Die ausgefallene Kartoffelernte – heute durch Importe leicht zu verschmerzen – bedeutete damals eine Katastrophe. „Kartoffeln waren schlechthin die Nahrungsgrundlage“, erinnert sich Friedrich Frech, der acht Jahre alt war und in der Enzelinstraße in Grombühl wohnte. Noch im folgenden Jahr waren die Folgen zu spüren. „Wenig Lebensmittel, wenig zu essen“, notierte Otto Seidel am 1. Mai 1948: „100 Gramm Fleisch im Monat pro Person, eine Stolle Brot die Woche, keine Kartoffeln.“ Ein Wuppertaler Verlag brachte unter dem alles sagenden Titel „Kartoffelsorgen – was koche ich morgen?“ sogar ein Rezeptbuch heraus, das „erprobte Ratschläge für kartoffelsparende Gerichte“ enthielt.
Am 17. Juni 1948 zogen demonstrierende Studenten in einem „Hungermarsch“ durch die Stadt. Drei Tage später kam die Währungsreform; Aus jeder alten Reichsmark wurden zehn Pfennige der neuen DM. Plötzlich, schrieb Otto Seidel, waren „Lebensmittel in großer Menge zu haben“, auch Obst und Gemüse.
Die Halbe Bier kostete in jenem Juni zehn Pfennige. „Ist aber gleich eine Mark altes Geld“, rechnete Seidel um. Dennoch: Das Schlimmste war vorüber, das Wirtschaftswunder konnte beginnen.