Würzburg
Götter im Blutbad
"Die Orestie", sagt Stephan Suschke, Regisseur der ersten Tragödie („Agamemnon“) des antiken Dreiteilers,, sei „exemplarisch für das Zusammenspiel von Politik, Privatem und Gesellschaft“. Versuch einer Erklärung:
Schau, da schlüpft Orestes in die Welt. Hängt noch an der Nabelschnur, hat seinen ersten Schrei noch nicht getan, und schon ist sein Leben verpfuscht. Der Bub brütet eine Erbsünde aus, angerichtet von seinem Urahn Tantalos, einem Sohn des Zeus und Schurken sondergleichen. Tantalos hatte den Göttern einen Sohn zum Verzehr serviert. Die Olympier durchschauten ihn, bestraften ihn mit furchtbaren Qualen, die seither nach ihm heißen, und belegten seine Nachkommen, das Geschlecht der Tantaliden, mit einem Fluch.
Fortan brachten die Abkömmlinge des Tantalos sich gegenseitig um, samt ihren Angeheirateten und Vertrauten, eifersüchtig, blutrünstig, gierig. Grenzenlos grausam, irre vor Hass, rächten sie Mord mit Morden bis in die fünfte Generation, bis zu Orestes und seine Schwestern Iphigenie, Elektra und Chrysothemis. Prominente Eltern, Mörder und Mordopfer beide, setzten die vier in die Welt: Vater Agamemnon führte die Griechen in den Krieg gegen Troja. Mutter Klytaimestra ist eine Tochter jener Leda, die mit dem Schwanen schlief, als der ihr Zeus den Hof machte.
Regisseur Suschke sagt, diese Saga eines blutrünstigen Clans, stelle die Frage, „wie geht man mit einer kontinuierlichen Praxis von Mord um?“. Anders gefragt: Wie beendet man die kontinuierliche Praxis von Mord? Geht das überhaupt? Suschke verweist auf die weltweiten kriegerischen Auseinandersetzungen – hält die Fragen, die die Orestie aufgibt, für grundsätzlich und aktuell.
Götter im Blutbad
Götter im Blutbad
In der Orestie sind die Götter, die olympischen Plagegeister, immer mittendrin im blutigen Treiben, fünf Tantaliden-Generationen lang, als Anstifter, Auftraggeber, Rächer, eine nachtragende Bande: Unheil bringende, unbarmherzige Schicksalsschläger. Kein bisschen Frieden für die Menschen, wenn es ihnen nicht gefällt, und kein Entkommen.
Agamemnon bringt seine Tochter Iphigenie um, damit ihm die Götter guten Wind für die Fahrt nach Troja schicken.
Klytaimestra nimmt Rache und bringt Agamemnon um und seine trojanische Geliebte Kassandra. Tochter Elektra will Rache für den Vater. Tochter Chrysothemis will ihn töten, kann es nicht tun. Elektra, in einem Rausch des Wahnsinns, hetzt Orestes auf. Der will nicht morden, hat aber die Rechnung ohne Apoll gemacht, den Gott der Heilung und der Musik. Der habe ihm offen gedroht, berichtet Orestes bei Aischylos, „mir eiskalte Stürme des Unheils in die warme Leber zu senden, wenn ich den Vater nicht in genau der gleichen Art an den Schuldigen räche – sagte, ich solle Leben für Leben fordern, sonst müsste ich es am eigenen Leben büßen, sprach er, mit vielen unsäglichen Leiden, des Besitzes beraubt, von Strafen gehetzt, verrückt wie ein rasender Stier“.
Klytaimestra nimmt Rache und bringt Agamemnon um und seine trojanische Geliebte Kassandra. Tochter Elektra will Rache für den Vater. Tochter Chrysothemis will ihn töten, kann es nicht tun. Elektra, in einem Rausch des Wahnsinns, hetzt Orestes auf. Der will nicht morden, hat aber die Rechnung ohne Apoll gemacht, den Gott der Heilung und der Musik. Der habe ihm offen gedroht, berichtet Orestes bei Aischylos, „mir eiskalte Stürme des Unheils in die warme Leber zu senden, wenn ich den Vater nicht in genau der gleichen Art an den Schuldigen räche – sagte, ich solle Leben für Leben fordern, sonst müsste ich es am eigenen Leben büßen, sprach er, mit vielen unsäglichen Leiden, des Besitzes beraubt, von Strafen gehetzt, verrückt wie ein rasender Stier“.
So und so ähnlich spielten die Götter, wenn man den alten Geschichten trauen darf, Jahrtausende lang mit den Menschen. Die alten Griechen erzählten einander davon wie von wahren Begebenheiten. Der Würzburger Archäologie-Professor Ulrich Sinn, der die Orestie-Produktion am Mainfranken Theater wissenschaftlich betreut, berichtet, Götter- und Heldensagen seien wesentliche Teile der Inszenierung der antiken Gesellschaft gewesen; für die alten Griechen waren Realität und Mythos ein- und dasselbe. Die Herrscher jener Zeiten hätten neue Mythen – Heldenfiguren vor allem – geschaffen, um Politik zu machen. Korinther und Spartaner sonnten sich im Glanz des Helden Herakles, also schufen die Athener den mächtigen Theseus. Die Stadtherren teilten Athen in Stadtteile (Phylen) auf; damit sich die Bewohner mit ihren neuen Quartieren identifizieren, schwatzten sie ihnen für jede Phyle einen Heroen auf – und die Menschen glaubten. Die Götter erschienen den Hellenen ebenso lebendig wie Unterwelt, Titanen und Kentauren.
Antiker Splattermovie
Aischylos, der alte Grieche, 456 Jahre vor unserer Zeitrechnung geboren, knapp 70 Jahre alt gestorben, ein Soldat und Dichter, hat aus der homerischen Orestes-Sage „Die Orestie“ gemacht. Für Hermann Schneider, den Intendanten des Mainfranken Theaters, ist das Stück „einer der wichtigsten, bedeutendsten, umfangreichsten Texte des abendländischen Theaters“, auch „eine Keimzelle“ dieses Theaters. Und das, obwohl die Geschichte einen Fortgang nimmt wie ein zweitklassiger Splattermovie: Orestes gehorcht seiner Schwester und dem Gott und schlachtet seine Mutter und deren Liebhaber ab, als seien sie zwei Stücker Vieh.
Die alten Griechen, so fern scheinen sie – was haben die auf einer heutigen Bühne verloren? Schauspieldirektor Bernhard Stengele, der die Orestie in den Spielplan des Mainfranken Theaters aufnahm und den zweiten Teil „Die Choephoren“ inszeniert, glaubt, „an der wahnsinnig hohen Brutalität hat sich nichts geändert. Wenn sich die Menschheit geändert hätte, würden wir das Stück nicht mehr spielen. Es ist brandaktuell.“ Intendant Schneider, Regisseur des dritten Teils („Die Eumeniden“) denkt, die Mythen seien immer dieselben. Es gehe letztlich immer darum, „wie man sein Leben einerseits als fremdbestimmt und andererseits als selbstbestimmt erfährt, und dass man sich einer Illusion von Freiheit oder einer Desillusion von Unfreiheit ergeben kann“.
Die Haut vom Leib ziehen
In der Antike geht das Grauen geht weiter. Die Erinyen, Rachegöttinnen, schaurige alte Weiber aus der Unterwelt, zuständig für Familienverbrechen, hetzen den Muttermörder, wollen ihn in den Wahnsinn treiben und ihm die Haut bei lebendigem Leibe abziehen. Auch auf Apollo haben sie ein Auge: „Nicht nur mitschuldig bist du dieser Tat“, schelten sie ihn, „nein, du hast sie bewirkt und ganz verschuldet“. – Ein Aufbegehren gegen einen Gott! Aischylos bringt einen neuen, nie gehörten Ton in die Literatur. – Apollo begreift nicht: Hat Orestes doch nur eine Gattenmörderin erschlagen. Die Erinyen interessiert das nicht, denn Klytaimnestras Mord an Agamemnon war „kein Mord am eignen Fleisch und Blute“. Die antiken Rechtsnormen sind nicht leicht zu begreifen.
Der Mörder als Ebenbild Gottes
Älter noch als des alten Aischylos’ Orestie ist die Genesis, das 1. Buch Mose. Wir schlagen auf Kapitel 1, Vers 27: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ Heißt das, der Mensch gleicht Gott? Oder heißt das, Gott gleicht den Menschen, wie die Olympier es taten? (Der Philosoph Feuerbach brachte den Gedanken in die Welt, der Mensch, sich sehnend nach Erlösung, habe Gott nach seinem Ebenbild geschaffen.) Acht Kapitel weiter steht in der Genesis geschrieben: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden, denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.“ – Ist uns das ewige Morden in die Wiege gelegt? Schneider meint, „dass diese Strukturen nichts mit einer Zivilisation zu tun haben, sondern möglicherweise mit einer generellen menschlichen Disposition“. Die Zivilisation verändere sich, die Kultur verändere sich, „aber die Natur bleibt“.
Orestes, Spross des Kindermörders Tantalos in der fünften Linie, Schlächter seiner Mutter, hetzt rastlos durch die Welt, die Rachegöttinnen auf den Fersen, und vertraut auf Apollo, den mörderischen Drahtzieher. Der hatte ihm empfohlen nach Athen zu flüchten, auf die Akropolis zum Heiligtum der Pallas Athene. Dort wolle er, der Gott, Richter und Mittler sein „und schlichtend Wort in diesem Streit erwecken“.
Das ist Aischylos’ Geniestreich. Hier zeigt der Dichter einen kulturgeschichtlichen Wandel auf, vom schicksalsbehafteten zum autonomen Menschen, der seine Verantwortung in und für die Gesellschaft erkennt. Ein Gericht soll entscheiden, was mit Orestes geschieht. Vernunft soll walten, und nicht die Rache. Athene macht mit, sie erhebt den Athenern das Gericht zur Pflicht: „Es walten Furcht und Ehrfurcht denn verschwistert, dem Unrecht wehrend hier bei Tag und Nacht, wo solche Hoheit rechtlich ihr verehret.“
Vom (Un-)Wert der Frau
Der Prozess: Apoll gibt den Verteidiger, eine Erinye die Anklägerin. Dann stimmen die Richter, die Areopagiten, ab; jeder legt einen Stein, Schuldspruch hierhin, Freispruch dorthin. Beide Steinhaufen sind gleich groß. Athene mischt sich ein. „Mir steht im Streit die letzte Stimme zu, und diesen Stein wird ich Orestes geben.“ Sie, die Tochter des Zeus, seinem Kopf entsprungen, begründet: Keine Mutter habe sie geboren, „und immer lob ich mir den Mann. (Nur freilich zur Ehe nicht. Des Vaters bin ich ganz.) So liegt mir wenig an des Weibes Schicksal, die ihren Mann, des Hauses Herrn erschlug.“ So entscheidet die Göttin, dass der Mord an der Frau verzeihlich ist, weil sie weniger wert sei als ein Mann. Und der Chor der Bürger, erst empört, dann besänftigt von Athene, schwört Wechselmorden, Rachetaten und finstern Gräueln ab. Einmütig im Leben, einig im Hass wollen sie fürderhin sein, „denn dies wird den Völkern zum Heile“. Ein Herold hat das letzte Wort: „Nun jauchzt und jubelt zum Festlied.“
Die Welt ist nunmal schrecklich
Athenes Argumentation löst in Schneiders Inszenierung eine Existenzkrise aus. „Orest wird bei mir zwar entschuldet, sogar entsühnt“, berichtet er, „aber er ist nicht befreit, weil er feststellt, dass er eben doch vom Blut seiner Mutter ist. Deshalb hat er genauso gehandelt wie seine Mutter. Und das ist das eigentlich Tragische“.
Stengele erzählt, eine Choristin habe ihn auf der Probe gefragt, warum das Theater „eigentlich immer so schreckliche Stücke“ spielen müsse. Seine Antwort: „Wir müssen sie spielen und wir müssen diese Fragen stellen. Wir können nicht, was manche Leute gerne hätten, diese Fragen nicht stellen und ihnen damit aus dem Weg gehen. Diese Stücke spiegeln unsere Welt wider, die nun einmal so schrecklich ist.“
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