Sie sind ein gigantisches, privates Archiv – und für einen Fremden die schiere Unübersichtlichkeit. Wie nur einigermaßen Übersicht gewinnen in den großzügigen Kellerräumen im Remlinger Haus von Professor Gerhard Kneitz? Durch mit Aktenordnern vollgestopfte Gänge steuert der 78-jährige Naturwissenschaftler einen tageslichthellen Raum an – schon sind die unzähligen Karteikästen nicht mehr zu übersehen.
Im Postkartenformat ist hier ein persönliches Tagebuch eingeordnet, das einmalig ist in seiner Art. Der Professor hat über fast drei Jahrzehnte, seit 1984, auf über 30 000 Karteikärtchen seine Tageserlebnisse in Bildern und Skizzen fixiert und auf die Rückseite die Texte vom Zeitpunkt des Entstehens geschrieben. Ein Schatz mit unzähligen Kunstwerken darunter, der bislang nur nicht gehoben worden ist.
Immer öfter erinnern sich Freunde und Bekannte des weit bekannten Ökologieprofessors an dessen seltene Leidenschaft, bei Tagungen und sonstigen Gelegenheiten zum Kugelschreiber, Blei- oder Farbstift zu greifen und auf ein kleines Kärtchen zu zeichnen. Sein bilderreiches Tagebuch ist interessant geworden – „ich hab' das erst mal gar nicht kapiert“, sagt er. Die ersten Unikate waren bei einer internationalen Artenschutzausstellung in Bonn zu sehen. Jetzt stecken die ausgestellten kleinen Karten – mit Motiven unter anderem vom UN-Umweltgipfel in Rio, an dem Kneitz 1992 als Vertreter Deutschlands teilgenommen hatte – in Rahmen und Passepartout. Und wirken so noch beeindruckender.
Die Karteikästchen in Kneitz' Keller spiegeln ein ganzes Arbeitsleben: In schierer Vielfalt geben die Kärtchen Situationen und momentane Stimmungen des Tagesbuch-Malers wieder. Wo heute mancher nach Laune ungebremst auf den Auslöser der Digitalkamera drückt, griff der Professor zu Bleistift, Kuli und Karteikarten, von denen er immer ein paar einstecken hatte. Und schließlich nahm Kneitz irgendwann auch Lackfarbstifte zur Hand, die den Kärtchen auf einfache Weise gar Ölbild-Charakter verleihen. Da war schon System geworden, was 1984 bei einer Exkursion mit Studenten auf der nordfriesischen Insel Amrun zufällig begonnen hatte.
Seit der Exkursion zeichnete der Naturschützer und Ökologe alles, was er von einem Tag festhalten wollte. Menschen, Tiere, Landschaften, Wildpflanzen, Lieblingsblumen wie die Iris, Rosen, Ortsbilder und Enkelkinder. Bis zu drei Zeichnungen entstehen am Tag, so zwischendurch, weil oft nicht viel Zeit bleibt. Bis zu drei Minuten braucht Kneitz pro Bild. Manchmal sind es nur ein paar Striche, flüchtige Zeichnungen, geführt von sicherer Hand. Wenn bei längeren, langweiligen Fachtagungen viel Zeit war, entstanden auch sehr filigrane Porträts oder Fantasiezeichnungen mit dem Kugelschreiber.
Mit dem zunehmenden Interesse an seinem Bilder-Tagebuch kommt der emeritierte Professor nun immer mehr in die Bredouille: Gerhard Kneitz muss sortieren und auswählen. Am 24. April soll es eine Ausstellung zum Jubiläum der Schutzstation Wattenmeer auf der Hallig Hooge geben, wo Zeichnungen von Exkursionen aus seiner Zeit als Hochschullehrer gefragt sind. Und am 3. Mai wird in Rottendorf auf der Jubiläumsveranstaltung zum 100-Jährigen des Bund Naturschutz in Bayern und zum 40-Jährigen der Kreisgruppe Würzburg eine Auswahl von Kneitz-Kärtchen gezeigt werden. Und dann ist noch eine Wanderausstellung für die Spessart-Städtchen Marktheidenfeld, der Wiege des Bund Naturschutz, Gemünden und Lohr geplant.
Sie soll lokalbezogen sein, und dafür schlummern im Keller auch jede Menge Motive. Nur, wie sollen die besten Bilder ausgestellt werden, wenn der ganze Schatz noch gar nicht gesichtet ist? Eine Auswahl ist inzwischen mit viel Mühe und unter Mithilfe von kunstverständigen Freunden getroffen – man kann ihr das Prädikat „Künstlerisch wertvoll“ ohne Zweifel aufdrücken.
Bei 30 000 Zeichnungen ist natürlich vieles Geschmackssache, vieles nur aus einer persönlich emotionalen Situation heraus besser zu verstehen. Dass Gerhard Kneitz künstlerisches Blut in den Adern hat, lässt sich nicht abstreiten. Einer seiner direkten Vorfahren ist der Thüngersheimer Barock-Maler Georg Anton Urlaub.
Die Freude, dass seine Zeichnungen jetzt Interesse finden, kann Gerhard Kneitz nicht verhehlen. Doch der 78-Jährige steht vor einem gewaltigen Problem. Bisher hatte sein besonderes Tagebuch in den Karteikästen wenigstens eine zeitliche Ordnung, in die durch die thematische Suche und Gliederung jetzt eingegriffen worden ist. Kneitz steht vor einer gewaltigen Unordnung – und viel, viel Arbeit.
Eine Ausstellung mit ausgewählten Karten aus dem Tagebuch von Professor Gerhard Kneitz ist zur Jubiläumsveranstaltung des Bund Naturschutz am 3. Mai ab 18 Uhr in der Erasmus Neustetter-Halle in Rottendorf zu sehen.
Weitere Skizzen werden dann bei der Spessarter „ARTenvielfalt“ ausgestellt: 18.Oktober bis 15. November in Marktheidenfeld im Franck-Haus, 8. bis 15. Februar 2014 in Lohr im alten Rathaus.