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WÜRZBURG
Gelöste Kriminalfälle: Schüsse auf der Autobahn
Autobahnschützen-Prozess       -  Der Autobahnschütze im Jahr 2014 vor Gericht in Würzburg. Jahrelang hatte der Lkw-Fahrer vom Lenkrad aus auf andere Fahrzeuge geschossen.
Foto: Daniel Karmann, dpa | Der Autobahnschütze im Jahr 2014 vor Gericht in Würzburg. Jahrelang hatte der Lkw-Fahrer vom Lenkrad aus auf andere Fahrzeuge geschossen.
Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 11.12.2019 21:38 Uhr

Auf den ersten Blick wirkt Manuel K. (Name geändert) als könnte er kein Wässerchen trüben: Der kräftige ältere Mann mit der leise nuschelnden Stimme, Schnauzbart und goldenem Ring im Ohr ist immer höflich und zurückhaltend. Als wolle er das Gericht fragen: „Verzeihen Sie, darf ich kurz stören?“ Mit höflichem Kopfnicken begrüßt er am Morgen sogar den Staatsanwalt, der im Lauf des Tages entsetzliche Dinge über ihn sagen wird. Aggressionen oder gar wildes Herumballern mit dem Risiko, dabei Menschen zu töten, traut man dem 58-Jährigen auf den ersten Blick nicht zu.

Und doch ist der Lkw-Fahrer im lässigen schwarzen T-Shirt jener Schütze, der vier Jahre lang für Angst und Schrecken auf den Autobahnen zwischen Konstanz und Flensburg gesorgt hat. Ermittler haben lange vergeblich nach dem Schützen gesucht – immer mit der Furcht, dass er irgendwo auf einer Autobahn jemanden töten könnte.

Manchmal dauerte es viele Tage und Hunderte von Kilometern, ehe Manuel K. der Drang überkam. An anderen Tagen nahm der zu Beginn des Prozesses 58-Jährige vier Ziele hintereinander aufs Korn: Seitenscheibe runter, mit links gelenkt, mit rechts geschossen.

Er habe nie bewusst auf Menschen gezielt, sagt er

Auf Menschen will K. nie bewusst gezielt haben, immer nur auf die Ladung ganz hinten. Aber tödliche Zufallstreffer waren stets möglich – vor allem, seit der Autobahnschütze vom kleineren Kaliber 22 auf größere Kugeln von neun Millimeter Durchmesser umrüstete. Er schoss angeblich aus Rache dafür, dass ihn ein Autotransporter einst fast von der Straße gedrängt hatte.

Am 10. November 2009 muss der Drang zu Schießen besonders groß gewesen sein. Da ist ein Lkw-Fahrer zwischen Pommersfelden bei Bamberg und dem Mönchshof-Dreieck bei Frankfurt am Main unterwegs. K. holt die Pistole mit Schalldämpfer aus dem Versteck im Lenkrad, wo normalerweise der Airbag untergebracht ist. Dann schießt er beim Überholen und sich wieder Zurückfallen lassen, viermal auf ein- und denselben Lkw-Zug, der in die gleiche Richtung fährt wie er.

Dazwischen ballert er mit einer Pistole Marke Eigenbau – die er einzeln nachladen musst – auf drei Autotransporter im Gegenverkehr. Sein Schuss auf einen vierten verfehlt das Ziel gegen 18.10 Uhr nahe der Raststätte Würzburg.

Ein Schuss trifft eine Autofahrerin im Nacken

Gerade diese Kugel hätte um ein Haar die ahnungslose Autofahrerin Petra B. getötet. Das Projektil zerschmettert fast auf Höhe der Würzburger Raststätte die Seitenscheibe des Pkw, trifft die Frau im Nacken, nur Zentimeter von der Wirbelsäule entfernt. Mit viel Glück lenkt Petra B. ihren Skoda an die Mittelleitplanke, bremst ihn ab, bringt ihn zum Stehen.

Nicht auszudenken, was für ein Massenunfall auf dieser viel befahrenen Strecke passiert wäre, wenn ihr Wagen unkontrolliert über die Fahrbahn geschleudert und mit anderen Autos kollidiert wäre – „ein durchaus realistisches Szenario“, wie ein Ermittler sagt.

Angeklagt wegen vierfachen versuchten Mordes

Das ist nicht der einzige gefährliche Vorfall: Am 1. Februar 2010 durchschlägt ein Projektil auf der A2 bei Magdeburg die Seitenscheibe eines Kleintransporters. Durch Glassplitter wird der Fahrer im Gesicht verletzt, der Beifahrer hat einen Glassplitter im Auge. Drei Monate später verfehlt eine Kugel auf der A61 bei Gymnich knapp den Fahrer.

Diese Schüsse bringen Manuel K. 2013 wegen vierfachen versuchten Mordes in Würzburg auf die Anklagebank. Drei seiner Opfer nehmen eine Entschuldigung an. Petra B. nicht. Schon seinen Brief aus der Zelle würdigte sie keiner Antwort. „Die Schuld wird mich ein Leben lang begleiten“, stand darin. Als die Frau, die nur mit viel Glück mit dem Leben davon kam, in Würzburg im Zeugenstand sitzt, versucht K. es erneut. Doch sie lässt ihn abblitzen: Schließlich habe er nach dem Schuss auf sie vier Jahre lang weitergemacht statt aufzuhören. „Da hätten sie genug Zeit dafür gehabt.“

Der Angeklagte spricht von „Krieg auf der Autobahn“

In ersten Rechtfertigungsversuchen spricht Manuel K. von „Krieg auf der Autobahn“, langen Lenkzeiten, verstopften Parkplätzen, mehreren angeblichen Überfällen auf ihn selbst, für die er Rache nehmen wollte – an Opfern, die er willkürlich wählte und die damit nichts zu tun hatten. Die Schüsse hat er pauschal zugegeben, an Einzelheiten kann er sich angeblich nicht erinnern – nur daran, dass er „nie auf Menschen gezielt“ habe.

Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen geht aber davon aus, dass er dies bei dem Geruckel während der Fahrt, den ungewissen Lichtverhältnisse und Verkehrssituationen gar nicht kontrollieren konnte. K. habe den Tod von Menschen billigend in Kauf genommen.

Einmal überkam K. der Drang zu Schießen, als seine Frau einen Strafzettel bekommen hatte. Da setzte er sich in seinen Pkw, fuhr durch das nächtliche Köln und ballerte auf geparkte Autos – angeblich erst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass darin keiner saß.

Im Gefängnis hat er gelernt, Waffen zu reparieren

Am dritten Verhandlungstag überrascht der Angeklagte sogar seine Verteidiger mit einem überraschenden Geständnis: Als junger Mann hatte er für Diebstahl wertvoller Güter (darunter Autos) zwei Haftstrafen von über 14 Jahren kassiert – und im Gefängnis in einer sehr speziellen Werkstatt arbeiten müssen, die er den „Souvenirladen“ Erich Honeckers nennt. Dort wurde an Schusswaffen gearbeitet, die als Geschenke für DDR-Staatsgäste gedacht waren. „Ich habe von meinem 23. bis zum 33. Lebensjahr in der JVA Brandenburg Waffen zerlegt, repariert, auch verschönert.“ Nach zehn Jahren kam er nach eigenen Angaben im Rahmen einer Amnestie frei.

Die Anerkennung für seine handwerklichen Fähigkeiten beim Bau von Waffen und Schalldämpfern mögen dazu beigetragen haben, ihm im Prozess die Zunge zu lösen. Er ist erkennbar stolz, wenn davon die Rede ist. In seiner Profi-Werkstatt arbeitete der geschickte Handwerker nicht nur an Waffen und Schalldämpfern. Er reparierte Motoren von elektrischen Spielzeug-Fahrzeugen, baute Modellbau-Autos und eine Mini-Schießbude.

Wenn am Richtertisch Waffen und Schalldämpfer begutachtet werden, lehnt er lässig an der Balustrade: „Das ist das Innenleben der 22er“, erklärte er beim Blick auf beschlagnahmte Metallteile. Und „das ist Munition, die ich selbst gemacht habe“.

141 Jahre Haft, wenn man alles einfach zusammenzählen würde

Kurz zuckt der Angeklagte zusammen, als Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen am Ende seines Plädoyers addiert: Sieben Jahre Haft für den Mordversuch an einer ahnungslos vorüberfahrenden Frau auf der A3 bei Würzburg, fünf Jahre für einen zweiten Mordversuch, ein Jahr für jeden der über 120 Schüsse auf andere Lastwagen, die in der Anklageschrift als wesentlich übrig blieben. „Würde man alles einfach zusammenzählen, käme ich auf 141 Jahre und sechs Monate Haft“, sagt der Ankläger.

Das war nur ein Rechenexempel. Aber es machte die Schwere des Tatvorwurfs deutlich: 762-mal soll Manuel K. binnen vier Jahren auf Autobahnen auf andere Fahrzeuge geschossen und in fünf Fällen wildfremde Menschen in Lebensgefahr gebracht haben. „Sie spielten Roulette mit dem Leben anderer Verkehrsteilnehmer“, hält Raufeisen dem Lkw-Fahrer vor.

Schließlich muss K. für knapp elf Jahre hinter Gitter. In seinen letzten Worten vor Gericht bedauert er erneut seine Taten. „Ich bin kein Mörder und werde auch nie ein Mörder sein.“ Er habe noch nie auf Menschen oder Tiere geschossen. „Das ist das, was mich am meisten belastet.“

Wie der Autobahnschütze gefasst wurde

Die Ermittlungen gegen den Autobahnschützen hatten sich seit 2009 schwierig gestaltet. Viele der betroffenen Lkw-Fahrer bemerkten die Schüsse während der Fahrt nämlich nicht, sondern wurden erst am Zielort auf die Einschusslöcher aufmerksam. Jahrelang kam so eine Meldung nach der anderen – aber stets so spät, dass ein Rückschluss auf den Schützen nicht möglich war. Je nach Tatort ermittelten verschiedene Dienststellen in mehreren Bundesländern nebeneinander her. Sie wandten sich schließlich an das Bundeskriminalamt (BKA), um die Nachforschungen zu koordinieren.

Durch ballistische Untersuchungen konnte das BKA nachweisen, dass die Schüsse von einem Lkw aus abgefeuert wurden. Sogenannte „Köder-Lkw“ sollten Schüsse auf sich ziehen und so zum Täter führen. Der Plan scheiterte jedoch: Der Täter nahm keinen der überwachten Lastwagen unter Beschuss.

Im November 2013 wandte sich BKA-Präsident Jörg Ziercke in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ an die Bevölkerung und erhöhte die Belohnung von 27.000 auf 100.000 Euro. Nach Zierckes Auftritt gingen mehrere hundert Hinweise beim BKA ein.

Die Ermittler hätten den Täter schon viel früher schnappen können, wenn sie die Daten der Lkw-Mautstellen hätten benutzen dürfen. Doch das war ihnen rechtlich nicht erlaubt. Deshalb sammelte das BKA mit eigenen verdeckten Lesegeräten mit immensem Aufwand massenhaft Kfz-Kennzeichen – und hatte tausende von Verdächtigen, wenn wieder ein Lkw mit Schussloch auf so einer überwachten Strecke bekannt wurde. Mit der Zeit reduzierte sich der Kreis der verdächtigen Kennzeichen immer mehr. So konnte die Route der betroffenen Lastwagen rekonstruiert werden. Auch Verbindungsdaten von Mobilfunkmasten wurden in den Datenabgleich miteinbezogen.

Der BKA-Beamte, der die Ermittlung leitete, schilderte im Zeugenstand in Würzburg die Festnahme im Juni 2013. Es musste schnell gehen, denn Manuel K. hatte bemerkt, dass er observiert wurde. Ein Einsatzkommando überwältigte ihn am frühen Morgen. K. reagierte auf die Festnahme nicht überrascht, sondern fast emotionslos. „Es kam kein ,Was wollt Ihr von mir? Was soll das?' Das hätte man eigentlich erwarten können“, sagte der BKA-Beamte im Zeugenstand.

Während K. nach der Festnahme verhört wurde, lief parallel dazu die Durchsuchung bei seinem Arbeitgeber. „Ich habe keine Waffen und nicht geschossen“, sagte K. zunächst. Um 8.20 Uhr wurde das als Lüge entlarvt: Beamte fanden einen Schießkugelschreiber sowie Munition der gesuchten Kaliber .22 und neun Millimeter.

K. sagte, er habe das Schießgerät nur zur Selbstverteidigung. Dann fanden Polizisten im Haus einen Holzblock, auf den er zur Probe mit den anderen gesuchten Waffen geschossen hatte. Eine schnelle Analyse zeigte: Die Projektile aus dem Kugelfang stimmten mit Kugeln überein, die bei beschossenen Lkw sichergestellt worden waren.

Um 11.05 Uhr konfrontierte der Kriminalbeamte Hans-Jürgen K., ein erfahrener Mordermittler aus Würzburg, den Verdächtigen mit den Erkenntnissen. Da gibt Manuel K. auf: „Er gab sich einen Ruck und fasste den Entschluss, uns die Waffen zu zeigen“, beschreibt der Chefermittler vom BKA den entscheidenden Moment im Zeugenstand.

Er führt die Ermittler zu einer Hecke auf seinem Grundstück. Darin versteckt sind zwei Pistolen, mit denen geschossen worden war: Sie hängen in wasserdichter Verpackung am Fleischerhaken in der Astgabel. Sie waren so gut verborgen, dass Polizisten sie ohne den Hinweis des Verdächtigen zuvor übersehen hatten, sagt der Ermittler. (mas)

Einschussloch in Autotür       -  Das Einschussloch durch ein Projektil Kaliber 22 in einer Autotür. Jahrelang waren Ermittler auf der Suche nach dem Schützen.
Foto: Fredrik Von Erichsen, dpa | Das Einschussloch durch ein Projektil Kaliber 22 in einer Autotür. Jahrelang waren Ermittler auf der Suche nach dem Schützen.
 
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