In der Würzburger Kaiserstraße gab es um 1930 etliche jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Kanzleien. „Etwa jedes vierte Unternehmen hatte einen jüdischen Inhaber“, sagt Riccardo Altieri, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken (JSZ). Mit dem einstigen jüdischen Geschäftsleben in der Kaiserstraße befasst sich das vor 30 Jahren gegründete Zentrum in einem seiner zahlreichen aktuellen Projekte.
Wie haben jüdische Menschen in Unterfranken gelebt und gearbeitet? Wie wirkte sich die Politik in den verschiedenen Epochen auf sie aus? Welche Organisationsstrukturen gab es und wie funktionierten sie? Mit solchen Fragen beschäftigt sich das Team der Einrichtung von Stadt und Bezirk unter Leitung der promovierten Historikerin Rotraud Ries. Bei der Feier das 30-jährigen Bestehens im jüdischen Kulturzentrum „Shalom Europa“, wo das Johanna-Stahl-Zentrum beheimatet ist, gibt es am 30. März einen Einblick in das breit gefächerte Aufgabenspektrum der unterfrankenweit einmaligen Einrichtung.
Ganzer Straßenzug unter der Lupe
Welchen Berufen jüdische Menschen einst nachgingen und welche Unternehmen sie gründeten, war in den vergangenen Jahren immer wieder Thema. So berücksichtigt das Projekt „Landjudentum in Unterfranken“, das 2011 startete, auch die jüdische Wirtschaftsgeschichte. Eine Wanderausstellung, die aus dem Projekt hervorging und seit 2013 durch Unterfranken tourt, begibt sich zum Beispiel auf die Spuren von Händlern im Kreis Rhön-Grabfeld zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Nachdem Juden vor 1800 aus Landwirtschaft und Handwerk ausgeschlossen waren, verdienten viele von ihnen ihr Geld als Vieh- und Warenhändler.
Im vergangenen Jahr konzipierte das Zentrum eine viel beachtete Ausstellung über die Familie Seligsberger, die ein renommiertes Möbel- und Antiquitätengeschäft am Würzburger Johanniterplatz hatte. Möglich war der Aufstieg der Familie dadurch, dass Juden in Deutschland ab 1861 ihren Wohn- und Geschäftsort frei wählen durften. Weil der sogenannte Matrikelparagraf aufgehoben war, konnten sich auch so viele jüdische Geschäfte, Praxen und Kanzleien in der damals neuen, 1871 errichteten Kaiserstraße etablieren.
Mit der Kaiserstraße nimmt das Johanna-Stahl-Zentrum nun einen ganzen Straßenzug unter die Lupe. Eine Stele soll künftig an die jüdischen Geschäfte erinnern, die es hier einst gab. Ausführliche Infos über das, was das Team des Zentrums zusammen mit Mitgliedern der Initiative „Wir wollen uns erinnern“ über die jüdische Geschäftswelt herausgefunden hat, wird es über eine Homepage im Internet und via QR-Code auf der vom Würzburger Architekten Matthias Braun gestalteten Gedenkstele geben.
Projekte wie dieses zeigen, dass sich das Johanna-Stahl-Zentrum keineswegs nur damit befasst, was mit jüdischen Menschen im Dritten Reich geschah. Doch selbstverständlich ist auch dies Thema. In einem zweiten, großen Projekt gestaltet das Zentrum in Kooperation mit „Wir wollen uns erinnern“ einen „Weg der Erinnerung“ vom Platz?schen Garten bis zur Aumühle, von wo die Juden einst deportiert wurden. Direkt in der Aumühle soll ein Gedenkort entstehen.
Die Überlegungen, wie ein solcher Gedenkort gestaltet werden könnte, gehen von einem historischen Foto aus, auf dem ein Berg mit Gepäck der zur Deportation bestimmten Juden zu sehen ist. 109 künstlerisch gestaltete Gepäckstücke sollen in einer Installation an die 109 jüdischen Gemeinden erinnern, die es in Unterfranken 1932 noch gab. Zusammen mit „Wir wollen uns erinnern“ will Rotraud Ries versuchen, möglichst viele Gemeinden zur Mitfinanzierung des Projekts sowie dazu zu gewinnen, im eigenen Ort ein Gepäckstück als Verweis auf den Gedenkplatz sowie als Teil der lokalen Erinnerungskultur aufzustellen.
Deutschlandweite Besonderheit
Bei der Jubiläumsfeier werden drei alte Folianten aus der Verwaltung der Würzburger Landjudenschaft präsentiert, die kürzlich im Stadtarchiv entdeckt wurden. Die „Pinkassim“ genannten Protokoll-Bände stellen eine deutschlandweite Besonderheit dar: Ries sind nur fünf weitere Bücher bekannt, die von einer Landjudenschaft als übergeordnetes Gremium über lokale jüdische Gemeinden stammen. Von der Erforschung der Folianten verspricht sich die Historikerin neue Erkenntnisse über das Landjudentum im ehemaligen Würzburger Fürstbistum. Starten kann das Forschungsprojekt allerdings nur, wenn es gelingt, Drittmittel einzuwerben.
Neben diesen Projekten berät Ries mit Volontär Riccardo Altieri, Halbtagskraft Simone Weigandt und jeweils ein bis zwei Praktikanten Menschen zu Aspekten des jüdischen Lebens in Unterfranken, sie beantwortet Anfragen und betreut internationale Besucher. Beraten wird auch ein Freiwilligen-Team, das gerade eine „Biographische Datenbank Jüdisches Unterfranken“ aufbaut. Außerdem wartet die Sammlung Michael Schneeberger, die 60 Regalmeter Quellen, Recherchen und Bücher zur jüdischen Regionalgeschichte umfasst, auf ihre Erschließung. Auch dafür müssen Drittmittel eingeworben werden.