Man versteht die Welt nicht mehr: Negativ-Preise beim Öl sorgten dafür, dass derjenige Geld erhält, der Öl abnimmt. Negativ-Zinsen sorgen dafür, dass man für vorhandenes Erspartes zahlen muss, statt Zinsen zu erhalten. Die Probleme bei der Einführung der Corona-Beschränkungen waren wohl geringer als deren Zurücknahme. Wie kann man diese bizarren Vorgänge und die dahinter stehenden Mechanismen verstehen?
Die Kybernetik, die Kunst des Regeln und Steuerns von Maschinen, aber auch von biologischen und sozialen Systemen, bietet eine Basis, diese sehr unterschiedlichen Vorgänge in einen größeren Zusammenhang zu sehen - und sie behandelt Methoden für ein vernünftiges Eingreifen in laufende Prozesse, die in den Ingenieurwissenschaften schon Jahrzehnte lang sehr erfolgreich angewendet werden.
Nichtlineare Vorgänge, also schnell anwachsende Vorgänge, zeigen oft ein sogenanntes Überschwingungsverhalten. Die Ausbreitung von Covid-19 zählt zu dieser Kategorie. Besonders schlimm wird dieses Verhalten, wenn solche Prozesse starke Verzögerungen haben, auch dies ist bei Covid-19 mit Inkubationszeiten von mehreren Tagen der Fall.
Aber Sie alle, liebe Leserinnen und Leser, lösen ähnliche Aufgaben im Alltag: Beim Duschen haben Sie vielleicht nicht von Anfang an die optimale Wassertemperatur und das Warmwasser erhöht sich erst mit Verzögerung langsam. Sie reagieren, indem Sie eine zunächst wärmere Temperatur einstellen, die Sie schrittweise zurückdrehen. Hier greifen Sie selbst als Regler ein. Wenn Sie die Temperaturrücknahme nicht übertreiben, gelingt es ganz gut, angenehme Temperaturen zu halten. Da dieses Überschwingungsverhalten auch in technischen Systemen relativ häufig auftritt, haben Ingenieure Methoden entwickelt, um damit umzugehen.
Der wichtigste Lösungsansatz ist eine Rückkopplung gemessener Abweichungen
Der wichtigste Lösungsansatz ist eine Rückkopplung von gemessenen Abweichungen (Temperaturschwankungen der Warmwasserzufuhr) gegenüber den Zielgrößen (der Duschtemperatur). Der Regler (hier: Sie) stellt kontrollierbare Einflussgrößen (das Warm-/Kaltwasser-Mischverhältnis) so ein, dass das System möglichst nahe an der Zielvorgabe bleibt. Solche Rückkopplungsmethoden sind das Erfolgsrezept für die meisten selbständig ablaufenden technischen Vorgänge, ob dies die Drehzahl-Regelung des Motors Ihrer Waschmaschine oder das Temperaturhalten Ihres Kühlschranks ist. Die Erfolge der Kybernetik im technischen Bereich sollten uns zuversichtlich machen, dass sie auch in anderen Bereichen hilfreich sein kann, wie bei der Steuerung der Corona-Krise.
Dabei ist die Güte der Steuerung davon abhängig, dass man alle wichtigen Einflussgrößen erfasst, und sich damit auf die bestmöglichen Messungen in diesem Entscheidungsprozess stützt. Gerade hier zeigen sich bei Covid-19 Probleme. In Europa wird in jedem Land anders gemessen, dabei werden wichtige Faktoren teilweise gar nicht erfasst. Man schätzt, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten das fünf- bis zehnfache der positiv Getesteten beträgt, also nur beschränkte Aussagekraft besitzt. Um beim Duschbeispiel zu bleiben: Wenn man versuchen will, die Wassertemperatur zu regulieren, ohne vernünftig die Wasserwärme am Duschkopf zu erfassen, wird die Temperatur schwer zu steuern sein, vermutlich wird man sich Verbrennungen zuziehen.
Während der Mensch eher lineare, das heißt gleichmäßige Änderungen erwartet, ist unsere Welt oft durch nichtlineare Abläufe, also sehr rasch anwachsende Phänomene geprägt. Bei den nichtlinearen Abläufen wurde das „exponentielle Wachstum“, also ständig immer schnellere Veränderungen, in letzter Zeit besonders strapaziert. In der wirklichen Welt gibt es das nicht. Alles in unserer Welt ist beschränkt, insofern findet ein so wildes Anwachsen nur für eine sehr kurze Zeit statt. Dann müssen die Wachstumskurven abflachen und schließlich abfallen. Dies erleben wir gerade bei der Corona-Ausbreitung.
Durch unser Hygieneverhalten sowie „Social Distancing“-Maßnahmen haben wir die Abflachung sogar etwas früher erreicht. Hier wurde von der Politik ein Ansatz der Kybernetik angewandt: Durch dämpfende Maßnahmen versucht man, extreme Ausschläge zu vermeiden.
Doch wie könnte die Politik nun gut weiter steuern: die Kybernetik weiß, dass Nahe am Optimum ablaufende Prozesse sehr schnell instabil werden. Wenn solche Risiken nicht akzeptabel sind, dann muss mehr Puffer eingeplant werden. Nachdem in technischen Anlagen solche Erfahrungen schon lange gesammelt wurden, lastet man diese nie voll aus. Übertragen auf die jetzige Krise heißt das, bei allen Maßnahmen einen Puffer einzuplanen. In der Technik gibt es wissenschaftlich ausgearbeitete Stabilitätskriterien. Diese ermöglichen es, eine langfristig optimale Strategie auszuwählen, die auch Robustheit gegenüber Risiken und Störungen mit einbezieht, anstatt nur kurzfristig das Bestmögliche unter höheren Risiken anzustreben.
Das Lernen aus neuen Messungen verbessert ständig die Entscheidungsgrundlagen
Bei den derzeitigen Problemen kennen wir wichtige Faktoren noch nicht, dennoch muss unter Zeitdruck entschieden werden. Für ähnliche technische Herausforderungen wendet man hier oft adaptive Regelungssysteme an. Das Lernen aus neuen Messungen verbessert so ständig die Entscheidungsgrundlagen – und zwar systematisch. Ohne diese Lernfähigkeit könnte beispielsweise Raumfahrt zur Erforschung zunächst unbekannter Umgebungen nicht erfolgreich durchgeführt werden.
Langfristige, systematische Ansätze der Kybernetik sollten intensiver von Entscheidern in der Politik verwendet werden, über die Probleme der Corona-Krise hinaus, auch bei ungelösten Herausforderungen, wie Klima-Wandel, alternde Gesellschaft oder Finanzkrise. Technische Systeme scheinen einfach im Vergleich zu komplexen Wechselwirkungen zwischen Medizin, Wirtschaft, Politik, Jura und Psychologie, die dort - wie bei Corona auch - berücksichtigt werden müssen. Für die Technik liefert die Kybernetik erfolgreiche Entscheidungsansätze, um stabile Lösungen für Vorgänge mit teilweise unbekannten oder sich ständig ändernden wichtigen Einflussfaktoren, trotz Verzögerungen, Unsicherheiten, Nichtlinearitäten und Instabilitäten zu finden. So kann rational begründet eine aktuell möglicherweise kurzfristig nicht beste, aber langfristig stabilere, weniger risikoreiche Entscheidung gefunden werden.
Außerdem ist es ja nachgewiesen, dass die (durchschnittliche) Intelligenz der Menschheit seit den 1990ern abnimmt. Vielleicht weil wirklich bei allen die Intelligenz abnimmt oder weil weniger Intelligente im Vergleich zu den Intelligenteren einfach mehr werden.