Ob mit goldenen oder blauen Kugeln, Holz- oder Strohsternen und natürlich mit reichlich Lametta: Ein geschmückter Tannenbaum ist das Weihnachtssymbol schlechthin. Auf Weihnachtsmärkten steht er, vor Rathäusern, im Bundestag und sogar vor dem Rockefeller Center mitten in der US-Metropole New York. Dabei hat sich die Tradition, einen Nadelbaum zu schmücken und ihn sich an Weihnachten in die Wohnung zu stellen, erst vor rund 100 Jahren in Deutschland durchgesetzt.
Aus dieser Zeit stammt auch das erste deutsche Weihnachtslied, das weder Christkind noch Engel, sondern den Baum zum Inhalt hat. Musikalisch gesehen ist „O Tannenbaum“ so etwas wie das historische Äquivalent zu „Last Christmas“ von Wham!. Es wird seit 1985 in der Weihnachtszeit rauf und runter gespielt, obwohl es eigentlich gar kein Weihnachtslied ist, sondern ein Liebeslied. Und auch „O Tannenbaum“ war zunächst einmal einer verflossenen Geliebten gewidmet – zumindest in Teilen.
Über die Jahrhunderte hinweg haben viele Köche im Wortbrei über die grüne Tanne herumgerührt. Tatsächlich sind schon aus dem 16. Jahrhundert Lieder und Gedichte bekannt, die sich mit der Tanne beschäftigten. Auf diese Vorlagen geht „O Tannenbaum, du trägst ein? grünen Zweig“ zurück, das Anfang des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde und wohl bereits mit der heute bekannten Melodie unterlegt war. Dieses Lied soll den Potsdamer Pädagogen Joachim August Zarnack (1777-1827) im Jahre 1819 zu seinem Liebeslied inspiriert haben. Zarnack beschreibt in der ersten Strophe den treuen Baum und seine grünen Blätter. Im Kontrast dazu steht die untreue Geliebte, die in Strophe zwei ihr Fett wegbekommt:
O Mägdelein, o Mägdelein,
Wie falsch ist dein Gemüte!
Du schwurst mir Treu in meinem Glück,
Nun arm ich bin, gehst du zurück.
O Mägdelein, o Mägdelein,
Wie falsch ist dein Gemüte!
Zu einem Weihnachtslied wurde „O Tannenbaum“ erst fünf Jahre später durch Ernst Anschütz (1780-1861). Der Leipziger Organist und Lehrer sammelte Volks- und Kinderlieder und arbeitete sie kindgerecht um. Anschütz behielt die erste Strophe von „O Tannenbaum“ bei, fügte aber 1824 die beiden heute bekannten Verse hinzu. Die zweite Zeile („Wie treu sind deine Blätter“) blieb zunächst unverändert. Erst im 20. Jahrhundert wurde daraus „Wie grün sind deine Blätter“. Wie bekannt „O Tannenbaum“ bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland war, zeigt die Tatsache, dass zu der eingängigen Melodie andere Texte gedichtet wurden. Nach der Abdankung von Kaiser Wilhelm II. 1918 kursierten zum Beispiel folgende hämische Zeilen im Volk:
O Tannenbaum, O Tannenbaum,
der Kaiser hat in? Sack
gehau'n, er kauft sich einen Henkelmann
und fängt bei Krupp in Essen an.“
Von „O Tannenbaum“ existieren auch Texte in anderen Sprachen. Mit seiner Zurückhaltung, was religiöse Aussagen anbelangt, ist dieses Lied zudem typisch für seine Zeit, ebenso wie „Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen“ (1841). Im Zuge der Säkularisation stand offenbar nicht mehr die christliche Botschaft des Festes im Vordergrund. „Eine gewisse Verflachung im Verständnis des Baumes ist bei diesen Liedern nicht zu übersehen. Er ist zu dieser Zeit weihnachtlicher Raumschmuck ebenso wie Zentrum der familiären Feier, dem sich die Aufmerksamkeit aller zuwendet“, sagt Guido Fuchs vom Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg.
Aber woher kommt denn nun der Brauch des Weihnachtsbaums? „So einfach lässt sich das gar nicht sagen“, erklärt Fuchs. Ein Stahlstich zeigt Reformator Martin Luther an Heiligabend 1536 in Wittenberg im Kreis seiner Familie. Auf dem Tisch steht ein geschmückter Baum. Ist der Reformator etwa der Vater des Weihnachtsbaumes? „Nein“, stellt Fuchs klar, „da es zu dieser Zeit noch keinen Christbaum gab. Selbst als der Stich Mitte des 19. Jahrhunderts angefertigt wurde, stand noch nicht in jedem Haushalt ein Baum.
Das dauerte noch eine Weile.“ Die Tradition, Häuser an Festtagen zu dekorieren, gab es bereits in der Antike. Auch grüne Zweige haben eine lange Geschichte als schmückendes Element. So ehrte man zur Wintersonnenwende den Sonnengott durch das Schmücken eines Baumes. Im Mittelalter gab es in Kirchen den sogenannten Paradiesbaum, einen mit Äpfeln behängten Laubbaum, der an die Befreiung des Menschen von der Erbsünde durch Jesus Christus erinnern sollte.
Die Geschichte des Weihnachtsbaumes beginnt wohl erst im 16. Jahrhundert in den Zunftstuben, wo mit Oblaten, Nüssen und Brezeln geschmückte Bäume standen, die die Kinder an Weihnachten plündern durften. Im 18. Jahrhundert war es vor allem der Adel, der einen Christbaum im Wohnzimmer stehen hatte. Erst der Deutsch-Französische Krieg (1870/71) brachte eine allgemeinere Verbreitung des Christbaums als das deutsche Weihnachtssymbol mit sich. „Mehr sogar noch der Erste Weltkrieg, der Männer aus verschiedenen Gegenden über mehrere Jahre zusammenbrachte, so dass ein intensiver Austausch über Bräuche und Gepflogenheiten stattfand“, erklärt Fuchs.
Dass sich der Weihnachtsbaum erst langsam in deutschen Wohnzimmern durchsetzte, liegt daran, dass er zunächst als Symbol der evangelischen Kirche galt. In der katholischen Kirche dominierte die Krippe als Weihnachtssymbol. „Der Protestantismus wurde teilweise sogar als Tannenbaum-Religion verunglimpft, und es wurde in katholischen Kirchen gegen den Christbaum gepredigt“, erzählt Fuchs. Doch all das Wettern half offenbar nichts, der Brauch des Weihnachtsbaumes setzte sich durch und ging von Deutschland aus sogar um die Welt – und mit ihm das einstige Liebeslied „O Tannenbaum“.
Guido Fuchs
Der 1953 in Göppingen geborene Guido Fuchs studierte Musikwissenschaft, Katholische Theologie und Byzantinistik und habilitierte sich in Würzburg. Er ist außerplanmäßiger Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Würzburg und leitet das Institut für Liturgie- und Alltagskultur in Hildesheim. Fuchs ist Autor des Buches „Unsere Advents- und Weihnachtslieder. Geschichte und Geschichten“, erschienen im Herder Verlag, Freiburg 2015. FOTO: Privat