Jeder, der ein Landschaftsbild oder die Sonnenblumen von Vincent van Gogh betrachtet und in die warmen Farben eintaucht kennt die Geschichte hinter diesen Bildern: die Geschichte von der Verzweiflung van Goghs und von seinem Aufbäumen gegen eine Krankheit, die zu seinem Tod mit 37 Jahren führte.
Auch hinter den fröhlichen Kinderbildern, die der Würzburger Fritz Ruschkewitz im Jahr 1946 schuf, tut sich ein Abgrund auf. Vater und Mutter waren bei einem Auswanderungsversuch aus Nazi-Deutschland gestorben, der Bruder Ernst war mit seiner Frau Ruth und dem kleinen Sohn Jan deportiert und im KZ ermordet worden. In den Bildern ist nichts davon zu ahnen.
Der 1901 geborene Fritz Ruschkewitz stammte aus der bekanntesten jüdischen Familie Würzburgs. Der Vater Siegmund besaß ein Kaufhaus in der Schönbornstraße und das Einheitspreisgeschäft „Merkur“ in der Eichhornstraße. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges schenkte er der Stadt einen Brunnen, der noch heute im Ringpark fröhlich plätschert.
Vor kurzem saß die Enkelin von Fritz und Urenkelin von Siegmund Ruschkewitz am Brunnenrand. Die 29-jährige Biomedizinerin Yael Ruschkewitz Leibzon aus dem israelischen Petach Tikwa hatte mit ihrem Mann Alexander, einem Softwareentwickler, die Stadt ihrer Vorfahren besucht und all die Stätten gesehen, die an die Familie erinnern.
„Als ich ein Kind war, wurde bei uns zuhause nicht über die Vergangenheit gesprochen“, sagt Yael. „Doch in den letzten Jahren ist mein Interesse gewachsen und ich habe begonnen, im Internet zu recherchieren. So stieß ich auf Würzburg und verschiedene Videos über unsere Familie.“
Im jüdischen Friedhof in der Werner-von-Siemens-Straße standen Yael und ihr Mann am Grab von Max Ruschkewitz, der 1930 an den Spätfolgen eines Bauchschusses, den er im Ersten Weltkrieg erhalten hatte, gestorben war. Der Bruder von Fritz hatte sich freiwillig gemeldet und war schwer verletzt zurückgekommen. Yael und Alexander spazierten am Main entlang, auf dem Fritz Ruschkewitz' Bruder Ernst mit christlichen Freunden gerudert war. Und sie besuchten das Johanna-Stahl-Zentrum, in dem ein Tagebuch aufbewahrt wird, das Ernst in verschiedenen Außenlagern des KZ Auschwitz geführt hatte.
Yaels Großvater Fritz war, wie die ganze Familie, patriotisch eingestellt. Im April 1919 meldete er sich 18-jährig zum Freikorps Würzburg, einem Freiwilligenverband zum Schutz der Errungenschaften der Weimarer Republik. Später absolvierte Fritz in Berlin eine Ausbildung zum Grafiker. 1929 nach Würzburg zurückgekehrt, wirkte er unter anderem an der Gestaltung der Schaufenster des elterlichen Warenhauses mit.
Natürlich standen Yael und Alexander auch vor dem Kaufhof, wo Stolpersteine an die Mitglieder der Familie Ruschkewitz erinnern, die zu Holocaust-Opfern wurden.
Im August 1933 wanderte Fritz mit seiner 23-jährigen Frau Ida ins britische Mandatsgebiet Palästina aus. In Tel Aviv versuchte er, in seinem Beruf als Grafiker Fuß zu fassen. In Briefen hielt er Kontakt mit Würzburger Freunden und auch mit Sophie Hollwich, die als Kinderfrau ihn und seine Brüder betreut hatte. Die Buben nannten sie Deda.
Yael Ruschkewitz Leibzon aus Petach Tikwa
Deda war entsetzt war über die Entwicklung in Deutschland und darüber, dass ihr ehemaliger Schützling mit seiner jungen Frau in ein fernes, wildes Land ausgewandert war. Fritz beruhigte sie: „Grüble nicht zu viel. Es ist alles Bestimmung und es ist richtig so“, schrieb er im September 1933 aus Tel Aviv. „Wir beide sind froh, dass wir hier sind, wenn auch nachts die Schakale heulen. Übrigens: Schakale fressen keine Menschen. Die rücken sofort aus, wenn jemand kommt.“
Auch im Brief vom 29. Januar 1934 suchte er Dedas Sorgen zu zerstreuen: „Das Meer rauscht, die Dampfer brüllen in allen Tonarten, und wir pfeifen auf die ganze Welt. Nein, wir wollen nicht auf die Welt pfeifen. Die Welt ist ja so schön und so herrlich. Es liegt doch nur an uns Maulaffen, die wir so blöd sind und so borniert, und es gar nicht merken, wie viel Schönheit es gibt.“
Sophie Hollwich starb ein Vierteljahr später in Würzburg. Sie erlebte nicht mehr mit, wie Siegmund Ruschkewitz 1935 unter dem Druck der Würzburger Nationalsozialisten und der Dresdner Bank das Warenhaus samt Einheitspreisgeschäft für einen geringen Betrag an den 23-jährige Josef Neckermann, Sohn eines Würzburger Kohlenhänders, verkaufen musste. Durch diese „Arisierung“ begründete Neckermann sein Waren- und Versandhaus-Imperium. 1936 wanderte Hans Ruschkewitz, ein weiterer Bruder von Fritz, nach Südafrika aus.
Fritz Ruschkewitz hatte beträchtliche Schwierigkeiten, in Palästina wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Er arbeitete als Verfasser und Illustrator von Kinderbüchern und Ausschneidebogen. Warme Farben prägten seine Bilder, die Bücher hatten optimistische Titel: „Wir sind froh“ hieß eines, „Gute Freunde“ ein anderes. 1936 kam der Sohn Gad, das einzige Kind, zur Welt.
In der Familie wurde deutsch gesprochen; Fritz, der sich nach einiger Zeit Peretz nannte, gelang es nie, die hebräische Sprache richtig zu erlernen. Yael erzählt, dass Gad, als er älter wurde, seinen Vater unterstützten musste, „zum Beispiel wenn er versuchte, in einem Laden seine Arbeiten zu verkaufen.“
Im Jahr 1946, kurz nachdem er von der Ermordung seines Bruders und dessen Familie erfahren hatte, schuf Fritz Ruschkewitz einen Kalender für Kinder, aus dem die beiden Bilder auf dieser Seite stammen. Der fröhlich lachende Junge mit der Haartolle ist leicht erkennbar dem Sohn Gad nachempfunden.
Fritz starb am 18. März 1967, der Bruder Hans starb kinderlos 1989 in Johannesburg.
Gad Ruschkewitz lebt heute in Tel Aviv. Er hat 44 Jahre in der Versicherungsbranche gearbeitet und ist pensioniert. Deutschen Boden hat er nie wieder betreten, aber er sammelt Briefmarken und steht auch mit deutschen Sammlern in Kontakt. Gad ist Vater von vier Kindern und fünffacher Großvater. „Der Ruschkewitz-Stammbaum hat also noch Blätter“, sagt Yael, die Jüngste.
Erst nach seinem Tod fand das Werk von Fritz Ruschkewitz größere Anerkennung. Seine Arbeiten waren im Israel Museum of Art und in anderen Museen ausgestellt. Außerdem gibt es in letzter Zeit ein wachsendes Interesse an der israelischen Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre. „Mehrere Bücher haben das Leben dieser Zeit beschrieben“, sagt Yael. „Verleger fragten meinen Vater, ob sie Bilder meines Großvaters verwenden dürfen und er sagte ja. Er war stolz.“
ONLINE-TIPP
Weitere Videos zur Familie Ruschkewitz im Internet: www.youtube.com (Suchbegriff "Ruschkewitz")