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WÜRZBURG
Freundlich aufgenommen, beneidet, verfolgt
Am Anfang war alles gut: Dunkelhäutige Fremde zogen in langen Karawanen dahin, einige zu Fuß, andere auf Pferden vor vollgeladenen Wagen. Die Männer hatten lange Haare, trugen Ohrringe und waren in groben Stoff gekleidet.
Die Würzburger Sintezza Theresia Winterstein war mit ihren Eltern und Geschwistern im Winter sesshaft und in der warmen Jahreszeit mit dem Wohnwagen unterwegs. Das Foto zeigt links, angeschnitten mit Geige stehend, ihren Vater, und in der Mitte stehend Theresia selbst.
Foto: FOTO Archiv Rita Prigmore | Die Würzburger Sintezza Theresia Winterstein war mit ihren Eltern und Geschwistern im Winter sesshaft und in der warmen Jahreszeit mit dem Wohnwagen unterwegs.
Von unserem Redaktionsmitglied Wolfgang Jung
 |  aktualisiert: 03.12.2008 21:39 Uhr

So beschreibt Roland Flade in seinem Buch „Dieselben Augen, dieselbe Seele“ die Sinti, wie sie vor mehr als 1000 Jahren Indien verließen und durch Persien, Armenien und die Türkei nach Europa wanderten.

Nach Würzburg kamen sie wahrscheinlich Mitte des 15. Jahrhunderts; sie wurden freundlich aufgenommen.

Fahrende Gruppen waren zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches, die Sinti waren nur eine von von vielen.

Selbst die Kaiser hatten im Mittelalter keinen festen Hof, sondern reisten mit riesigem Gefolge von Stadt zu Stadt.

Flade berichtet: „Die Würzburger fanden Gefallen daran, ihnen Töpfe und Körbe abzukaufen, stumpfe Scheren und Messer zum Schleifen zu bringen, defekte Kessel reparieren zu lassen oder den Männern beim Musizieren und den Frauen beim Tanzen zuzuschauen.

War ein Bär dabei, bedeutete dieser eine weitere Sensation. Eine besondere Faszination übte auch in Würzburg die von den Frauen ausgeübte Kunst des Wahrsagens aus.“

Das ungetrübte Verhältnis zwischen den Würzburger Behörden und den Sinti bezeugt ein Empfehlungsschreiben des Rates im Jahr 1464, ausgestellt für den „Zigeunergrafen“ Philipp zu Rotenberg: Über ihn und sein Volk sei in Würzburg keine Klage gekommen.

„Sesshafte Menschen trauen Nomaden grundsätzlich nicht“

Angus Fraser Historiker

Flade erklärt, wie sich der Wind drehte: Die Sinti – Scherenschleifer, Kesselflicker, Geigenbauer, Korbflechter, Schirmflicker – machten den einheimischen Handwerkern und Händlern Konkurrenz.

Die wehrten sich. Über ihre einflussreichen, auf lokale Monopole bedachten Zünfte schränkten sie die Angebote der Sinti ein. Gerüchte kamen auf:

Die „Zigeuner“ würden stehlen, zaubern, hexen und Kinder rauben, sie seien laut, unmoralisch und verschlagen, sie spionierten für die Türken, sie hätten die Nägel geschmiedet, die Jesus am Kreuz festhielten.

Die Sinti, teilweise ihrer Einkünfte und Kunden beraubt, gerieten in Not. Teilweise, so Flade, seien sie aufs Betteln, gelegentlich auch aufs Stehlen angewiesen gewesen, „womit sie ein Klischee bestärkten, das ihnen ohnehin schon anhing“.

Dazu zitiert Flade den britischen Autor des Standardwerks „The Gypsies“, Angus Fraser: „Sesshafte Menschen trauen Nomaden grundsätzlich nicht.

Und in der europäischen Gesellschaft, wo die Mehrheit zu einem Leben in Frömmigkeit, Leibeigenschaft und Plackerei gezwungen war, stellten die Zigeuner eine eklatante Negation aller Grundwerte und Prämissen dar, auf denen die vorherrschende Moral beruhte.“

1498 wurde die Sinti aus allen deutschen Landen verbannt, unter Androhung drakonischer Strafen. Noch 1711, zehn Jahre vor dem Baubeginn der Residenz, kündigten Würzburger Behörden kurzen Prozess mit dem fahrenden Volk an.

Arthur Bechtold berichtete 1935 im Würzburger General-Anzeiger darüber: Sinti sollten „sogleich ohne weiteren Prozess an den nächsten besten, zu diesem Zweck an den öffentlichen Straßen aufgerichteten Galgen aufgehängt werden.

Wer von ihnen aber seine Unkenntnis des Gesetzes nachweisen könne, solle, wenn nach empfindlicher Tortur kein Geständnis über ein anderes Verbrechen zu erbringen sei, trotzdem mit Ruten ausgehauen, ihm, sei es Mann oder Weib, der Galgen auf den Rücken gebrannt und auf ewig des Landes verwiesen werden.“

Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert, während der Aufklärung, wurde die Lage der Fahrenden besser. Flade vermutet, „nicht zuletzt dürfte auch ihr ausgeprägtes musikalisches Talent dazu beigetragen haben, dass man ihnen gelegentlich toleranter gegenübertrat“.

Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert traf auch die Sinti. Jetzt produzierten Maschinen die Hausierwaren, die sie Jahrhunderte lang manuell hergestellt hatten. Flade:
 
„Doch anstatt sich als weitgehend rechtlose Lohnarbeiter in die Maschinerie des Frühkapitalismus einspannen zu lassen, zogen die meisten das Festhalten am selbstständigen Hausierhandel – nun mit maschinell gefertigten Produkten – und die relative Freiheit und Unabhängigkeit des damit einhergehenden Lebens vor.“

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen vermehrt „Zigeuner“ vom Balkan nach Mitteleuropa. Anders als die indisch-stämmigen Sinti nannten sie sich Rom oder Roma.

1886 unterschied Kanzler Otto von Bismarck zwischen ausländischen und deutschen „Zigeunern“; die „ausländischen“ hielt er für eine „Plage“, von der das Land „gründlich und dauerhaft“ befreit werden müsse.

1906 erließ Preußen eine „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, der sich andere deutsche Staaten anschlossen.

Es kam noch schlimmer.

Flade berichtet vom Aufeinandertreffen zweier völlig gegensätzlicher Strömungen: „dem Aufkommen rassistischer Theorien einerseits und der kulturellen Idealisierung der Sinti andererseits“.

Lustig und frei, so malten sich die einen aus, sei das Zigeunerleben, voller Tanz, Musik und Erotik. In Bizets Oper „Carmen“ (1885) spielen „Zigeuner“ eine tragende Rolle, bei Johann Strauß' „Zigeunerbaron“ und Lehárs „Zigeunerliebe“ werden sie zu Titelhelden.

Das zeige, schreibt Flade, dass die „Zigeuner“ „für viele Theaterbesucher eine Projektionsfläche für den im eigenen Leben nie verwirklichten Wunsch boten, aus dem streng reglementierten, unfreien Alltag auszubrechen, im Einklang mit der Natur zu leben und sich um materielle Grundlagen nicht sorgen zu müssen.“

Im Mittelpunkt von Flades Buch steht die Sintezza Theresia Winterstein. Sie war im „Dritten Reich“ für einige Zeit als Tänzerin am Stadttheater beschäftigt. 1940 verstärkte sie neun Aufführungen lang das Ballett in „Carmen“.

Selbst die Mainfränkische Zeitung, das Hetzblatt der unterfränkische NSDAP lobte, wie die Hauptdarstellerin die „Leidenschaft des Stolzes, des Machtgefühls, der kühnen Selbstbestimmung“ der „Zigeunerin“ Carmen spielte.

Zur gleichen Zeit bereiteten die Nazis die Ausgrenzung der Sinti und Roma, ihre Zwangssterilisation und Verschleppung in Konzentrations- und Vernichtungslager vor.

„Manchmal waren die Gesänge so ergreifend, dass selbst die SS-Aufseher auf ihren Runden stehen blieben und lauschten“

Ein Augenzeuge im KZ Auschwitz-Birkenau

Aus dem Schatten des Evolutionsforschers Charles Darwin traten im 19. Jahrhundert Rassisten wie der Franzose Joseph Arthur Gobineau, der mit seinem Buch „Die Ungleichheit der Menschenrassen“ Einfluss in Deutschland gewann.

Gobineau verkündete die Überlegenheit der „arischen Rasse“ vor allem gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft, so genannten Mischlingen, die er für minderwertig hielt.

1938 gab Hitlers Schlächter Heinrich Himmler einen Runderlass aus, Titel: „Bekämpfung der Zigeunerplage“. Man habe herausgefunden, ließ er wissen, dass für die meisten der von Sinti und Roma verübten Straftaten Mischlinge verantwortlich seien.

Deswegen müssten „bei der endgültigen Lösung der Zigeunerfrage die rassereinen Zigeuner und die Mischlinge gesondert“ behandelt werden.
 
Jede Kriminalpolizeileitstelle habe eine „Dienststelle für Zigeunerfragen“ einzurichten, in jeder Kriminalpolizeistelle sei ein Sachbearbeiter für Zigeunerfragen zu bestellen. In Würzburg war das der 1907 geborene Kriminalbeamte Christian Blüm.

Theresia Winterstein sagte viele Jahre später über Blüm: „Dieser Mann hat über Leben und Tod und Gesundheit von Zigeunern bestimmen können. Später hat er sich dahinter verschanzt, dass er die Anweisungen befolgen musste.“

Flade beschreibt...
 

...was den Mitgliedern der Familie Winterstein bis 1945 im „Dritten Reich“ widerfuhr: Ausgrenzung, medizinische Experimente, Zwangssterilisation, Verschleppung, Mord.

Das eindringlichste von zehn eindringlichen Kapiteln hat er überschrieben mit „Im Totenreich der SS: Mitglieder der Familie Winterstein in Auschwitz Birkenau“.

Noch während die Sinti und Roma gefangen im Vernichtungslager litten, versuchten die Nazis, Orientierung im Dschungel ihre kruden Rassetheorien zu finden.

Flade zitiert den israelischen Historiker Yehuda Bauer: „Dass die Deutschen die Zigeuner (in Auschwitz-Birkenau, d. Red.) fast anderthalb Jahre lang am Leben ließen, lässt darauf schließen, dass noch keine Entscheidung über ihr Schicksal gefällt worden war, als man sie in das Lager einwies.“

Augenzeugen berichten, die Insassen des sogenannten „Zigeuner-Familienlagers“ hätten gelegentlich im Freien auf ihren mitgebrachten Instrumenten gespielt und getanzt, glühend beneidet von anderen Gefangenen, die auf dem Weg zur Gaskammer oder zum Arbeitseinsatz waren.

„Manchmal“ schreibt ein Augenzeuge, „waren die Gesänge so ergreifend, dass selbst die SS-Aufseher auf ihren Rundgängen stehen blieben und lauschten. Die Musik beschwor gleichsam die Erinnerung an ein anderes Leben herauf, ein Leben fern von Auschwitz.“

Es war trotzdem eine Hölle. Bis Ende 1943 hatten die Nazis und ihre Helfershelfer 18 736 Sinti und Roma aus dem Reich und aus den von Deutschen besetzten Gebieten nach Birkenau gebracht; insgesamt befanden sich rund 23 000 „Zigeuner“ für unterschiedliche Zeitspannen in dem Lager, von denen die meisten nicht überlebten.

Im Sommer 1945 kehrten drei Wintersteins aus dem KZ nach Würzburg zurück – von mehr als einem Dutzend, die verschleppt worden waren. Theresia Winterstein hatte mit Glück in Würzburg überlebt.

„Er hat seine ganze Kraft rücksichtslos zur Vernichtung der Zigeuner und Zigeunermischlinge eingesetzt“

Ermittler über den Würzburger „Zigeunerbeauftragten“

Am 8. Mai 1945 war Nazi-Deutschland besiegt, aber sein Geist lebte weiter. Täter wie der Würzburger „Sachbearbeiter für Zigeunerfragen“ Blüm, dem ein Ermittler bescheinigte, ein „gelehriger Schüler der nazistischen Rassenirrlehre zu sein“, der „rücksichtslos und ohne jede menschliche Regung“ seine ganze Kraft „zur Vernichtung der Zigeuner und Zigeunermischlinge“ eingesetzt habe, kamen vergleichsweise ungeschoren davon; Blüm saß ein Jahr lang in Haft.

Der Bayerische Landtag machte mit den Vorurteilen, aufgehäuft in Jahrhunderten, Staat: 1953 verabschiedeten die Abgeordneten unter Zustimmung aller Parteien die „Bayerische Landfahrerordnung“, die an das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ von 1926 anknüpfte.

Bis Ende der siebziger Jahre, wurden „Landfahrerkontrollmeldungen“ über die Landeskriminalämter nach München weitergegeben. Zuständig vor Ort für die Erfassung der Daten und für die Einleitung von Maßnahmen war jeweils ein „Zigeunersachbearbeiter“.

Acht Jahre nach dem Sieg über Nazi-Deutschland blieb Bayern selbst der Sprachregelung der NS-Rassisten treu.

Flade zufolge waren die Wiedergutmachungsregelungen für die Sinti „äußerst ungünstig“. Erst 1980 erkannte die Bundesregierung Opfern von Zwangssterilisationen eine einmalige Abfindung von 5000 Mark zu.

1998 hob der Bundestag sämtliche von den Nationalsozialisten verfügten Sterilisationsanordnungen auf.

Im Mai 2005 wurde in Würzburg am Paradeplatz in Anwesenheit von Rita Prigmore, der Tochter Theresia Wintersteins, und Oberbürgermeisterin Pia Beckmann, ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma erhüllt. Flades Buch, Band 14 der Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, erschien 2008 im Verlag Ferdinand Schöningh.

Die Sintezza Prigmore sagte über das Buch, damit sei ihrer Familie nun endlich Gerechtigkeit widerfahren. „Roland Flade hat uns unsere Ehre wiedergegeben.“

1498 werden alle „Zigeuner“ aus den deutschen Landen ausgewiesen. Warntafeln drohen drakonische Strafen wie Auspeitschen und Galgen an.
Foto: FOTO Stadtmuseum Nördlingen | 1498 werden alle „Zigeuner“ aus den deutschen Landen ausgewiesen. Warntafeln drohen drakonische Strafen wie Auspeitschen und Galgen an.
 
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