
Seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten protestieren in vielen Städten der USA Menschen gegen Polizeigewalt und Rassismus, auch in New York. Dort ist Miriam Groß Gemeindepfarrerin der deutschen Evangelisch-Lutherischen St.-Pauls-Kirche. Die gebürtige Nürnbergerin, die in Uffenheim (Lkr. Neustadt an der Aisch) groß geworden ist, arbeitet auch als Polizeiseelsorgerin, repräsentiert die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bei den Vereinten Nationen und ist derzeit gefragte Interviewpartnerin im deutschen Fernsehen. Nach der Trauerfeier für Georg Floyd am Donnerstag nahm sich die 43-Jährige Zeit für ein Telefonat.
Miriam Groß: Tagsüber war es etwas friedlicher, nachts sehr turbulent. Die Proteste haben die Pandemie in den Hintergrund gedrängt. Corona hatte die Stadt, die sonst nie schläft, zur Ruhe gebracht, wenn auch nicht im positiven Sinn. Nun ist dieses zwischenzeitlich in sich gekehrte, fast geisterhaft wirkende New York sehr unruhig und verunsichert.
Groß: Gegenwärtig ist die Situation noch sehr angespannt. Aber wir hoffen auf eine besonnene Führung durch Gouverneur Andrew Cuomo und Bürgermeister Bill de Blasio. In der Trauerfeier klangen erste versöhnliche Töne an.
Groß: Amen dazu! Über diesen Tweet freue ich mich sehr! Die Gottebenbildlichkeit ist in jedem Menschen vorhanden, und wenn wir uns als Gottes Geschöpfe entdecken und erspüren können, dann sind das erste Hoffnungszeichen. Das heißt nicht, dass ich nicht wahrnehme, welchen Rassismus und auch Antisemitismus in Polizeiinstitutionen vorhanden ist.

Groß: Natürlich. Ich war heute Morgen erst bei der Polizei und habe lange mit "meinen" Cops gesprochen, die sehr unter der aktuellen Situation leiden. Ein Cop - ein großer, stattlicher, farbiger Mann - hat mir deutlich gesagt, wie sehr diese ihn belastet. Auch er muss diese Übergriffe erleben.
Groß: Dort, wo ich als Seelsorgerin wirke, habe ich die Polizisten nicht als aggressiv kennengelernt, sondern als Menschen, die auf andere zugehen und versuchen, Verständnis zu zeigen. Die meisten empfinden ihren Job als Berufung und wollen helfen. Nun kommen sie in diese Auseinandersetzungen und müssen selbst Aggression aushalten. Das ist für die meisten schwer.
Groß: Das sind eigentlich alle Bevölkerungsschichten. Menschen verschiedener Herkunft, unterschiedlicher Nationalitäten, die bunte Vielfalt der Hautfarben, alters- und berufsmäßig durchmischt - das kann man nicht pauschalisieren. Durch die Geschehnisse 2020 werden vier Traumata reaktiviert und kumuliert.
Groß: Die Spanische Grippe von 1918 - heute erleben wir das mit Corona. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 - zur einer vergleichbaren Massenarbeitslosigkeit hat ebenfalls die aktuelle Pandemie geführt. Dazu kommt das Trauma der Rassenunruhen von 1968. Wie damals gehen auch jetzt Menschen auf die Straße und begehren sehr begründet gegen Rassismus auf. Und schließlich das Impeachment, das Amtsenthebungsverfahren, gegen Bill Clinton von 1998. Im Januar erlebten wir das gegen Donald Trump. Das sind alles Aktualisierungen von Ereignissen, die im letzten Jahrhundert über viele Jahrzehnte verteilt stattfanden - und jetzt in einem Jahr! Insgesamt ist das ein sehr komplexes Thema, aber es verunsichert die Menschen und führt auch dazu, dass sie Verzweiflung und Aggression Ausdruck verleihen.

Groß: Wir bräuchten eine Führungspersönlichkeit, die zuhört, die vereint und die versteht. Aber das Agieren des Präsidenten ist spaltend, polarisierend, destabilisierend, eskalierend. Und aus meiner Sicht auch verärgernd.
Groß: Ich empfand das als höchst verstörend, und für mich als Deutsche waren sofort geschichtliche Anklänge da. Im ersten Moment war ich unglaublich erschrocken und traurig, dann auch wütend, weil wir uns als Kirche nicht als Machtinstrument politischer Agitatoren missbrauchen lassen wollen.
Groß: Das ist ein ganz großes Thema bei uns. Rassismus und Antisemitismus sind schließlich ein Bruch des Gebotes der Nächstenliebe.
Groß: Zum einen haben sie für eine starke Digitalisierung gesorgt. Außerdem haben wir die Arbeit in der jüdischen Tafel verstärkt. Und ich bin als Seelsorgerin viel im Einsatz, auch gerade am Telefon. Der Dienst verlangt nun viel mehr von mir und stellt mich vor Herausforderungen, die ich mir bis vor kurzem nicht hätte vorstellen können. Wenn ein Mensch beispielsweise im Sterben liegt, muss ich entscheiden, ob ich ihn persönlich begleite oder mit Hilfe eines digitalen Gerätes die Gebete spreche. Ich gebe zu, dass ich auch Angst habe. Aber ich bin nicht ohne Mut im Herzen.
Groß: Meine Familie in Uffenheim und das Essen. Ich würde so gern mal wieder a geräucherte Bratwurscht essen und a gutes Glas Bacchus trinken.

Wie hätte es auch anders kommen sollen? Wenn einer die ganze Zeit zündelt, wird es irgendwann ein Feuer geben.