
Stellen Sie sich vor, Sie sind 92 Jahre alt, sitzen im Rollstuhl und leben in einem Wohnpflegeheim für Menschen mit Behinderung. Der samstägliche Ausflug endet hinter Tor 5 auf dem Flugplatz in Giebelstadt, beim Flugsportclub Giebelstadt (FSCG). Und dann geht es ab zum Rundflug.
Der Ausflug ist ein Kraftakt für alle Beteiligten
Tatsächlich klingt das sehr viel dynamischer als es ist. Der Ausflug ist ein Kraftakt für alle Beteiligten. Sieht man allerdings in das Gesicht von Wolfgang Schmieder, der gerade von seinem etwa halbstündigen Rundflug zurückgekommen ist, dann hat es sich wohl gelohnt. "Schön war’s!" sagt er immer wieder mit einer Überzeugung, die keine Erklärung braucht. Viermal steigt Pilot Christian Müller an diesem Tag mit einem neurologisch erkrankten und körperlich behinderten "Co-Piloten" in den bewölkten Himmel. Eine als mäßig bis frisch zu bezeichnende Brise fegt über den Platz. "Nicht ideal", sagt Peter Helferich, der FSCG-Vereinsvorsitzende mit Blick auf das parallel laufende Segelfluglager. Da die Thermik fehlt, ist es für Segler an diesem Tag etwas anspruchsvoller: "Lange bleibt man nicht oben", prophezeit er.
Die Gäste aus der Arche am Trojaweg in Würzburg ficht das nicht an, denn für den kleinen zweisitzigen Reisemotorsegler D-KNIT sind die Böen kein Problem. Es ist der einzige vereinseigene Motorsegler neben fünf Segelflugzeugen. Der Touring Motor Glider (TMG) des Dachauer Flugzeugbauers Scheibe, Spannweite 15 Meter, zieht mit 80 PS hoch in den Himmel. Von wegen Turbulenzen? "Nee", sagt Arnold Kaufmann, "ich hab’s genossen". Im Vergleich mit Kiliani? "A wenig schwächer!", urteilt er. Gabriele Garrecht ist heute wortkarg: "War schön!"

Für Kaufmann ist es der Jungfernflug. Die Anspannung ist sichtbar und auch die Anstrengung beim Ein- und Ausstieg. Ein "Aua" kommentiert die ungewohnten Bewegungen, ist doch das Gehen schon nur mit Rollator und sehr langsam möglich. Die 92-jährige Melitta Nöller ruft "Oh, liebe Zeit, da hab ich was gemacht!, als der hohe Schritt von der Plattform auf den Sitz verlangt ist. Rolf Müßig, Geschäftsführer der Arche gGmbH, aber hat vorher schon abgeschätzt, was er wem zumuten kann – und an Tagen wie diesen ist immer mehr möglich, als im Alltag. Alle laufen vom Clubhaus zur KNIT, geschätzt 200 Meter. "Das ist weit mehr als sie sonst den ganzen Tag laufen", frohlockt Müßig. Auch die Physiotherapeuten würden staunen, dann "hier können sie manche Dinge, die sie im Alltag nicht könnten".

Aber alle Teilnehmer am Flugtag hatten sich einen solchen Ausflug irgendwann einmal gewünscht. Fünf bis sechs Mal jährlich gibt es ihn für Arche-Bewohner aus den verschiedensten Häusern – und das bereits seit 2002. Es sei nicht ganz uneigennützig", relativiert Helferich dieses ehrenamtliche Engagement des FSCG lächelnd, "weil die Arche immer selbst gebackenen, leckeren Kuchen mitbringt".
Tatsächlich steht immer mindestens einer von etwa 20 Piloten zur Verfügung, so wie diesmal stellvertretender FSCG-Kassier Christian Müller, ein klassischer Hobby-Flieger, der gerne "ab und an mal von oben guckt. So wie heute, das ist so meins", sagt der IT-Fachmann eines Geldinstituts. Mit Mikrofon und Kopfhörer sind die Insassen im Flugzeug miteinander verbunden. Müller moderiert und weiß oft gleichzeitig, dass es nicht ankommt, weil seine Begleiter woanders hingucken. In der Regel erlebt er ein stilles Genießen, aber es gibt auch Gäste bei diesen "Linienflügen" Richtung Arche-Wohnstätten, die singen. Ein einziges Mal nur in all den Jahren sei ein Flug nach dem Start wegen Panik abgebrochen worden und einmal wurde eine Spucktüte benutzt.
Wen man auch fragt, alle würden gleich wieder einsteigen
Die Welt von oben zu sehen, "wie das unten alles so schön liegt, die Felder und die Ortschaften. Es ist alles so ruhig, wie es dort liegt. Das war meins!", sagt Melitta Nöller bei der Rückkehr. Erkannt habe sie nichts, nein, aber es ist "Einmalig!" sagt die frühere Landwirtin selig. Der strapaziöse Einstieg? "Ist schon wieder vorbei!". Wen man auch fragt, alle würden gleich wieder einsteigen. "Für das erste Mal war’s gut", resümiert Kaufmann. Und die Angst? "Vielleicht ein bissele, weil man nicht weiß, wie es ist."