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WÜRZBURG /LAMPEDUSA
Flüchtlingshilfe auf See: "Wenn wir nicht handeln, machen wir uns schuldig"
Eigentlich hat Klaus Vogel Containerschiffe über das Mittelmeer gesteuert. Dann schlug er einen anderen Kurs ein. Ende Januar bricht er mit der MS Aquarius Richtung Mittelmeer auf. Sein Ziel: Menschen retten.
Seenotrettung im Mittelmeer       -  _
Foto: Bundeswehr/Winkler (Bundeswehr)
Sarah-Sophie Schmitt
Sara Sophie Fessner
 |  aktualisiert: 23.01.2016 03:35 Uhr

Mehr als 3600 Menschen sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR im vergangenen Jahr im Mittelmeer ertrunken: Vermutlich ist die Dunkelziffer weit höher. „Eine humanitär völlig inakzeptable Situation“, sagt Klaus Vogel. Der Kapitän und promovierte Historiker steuerte bis vor einem Jahr noch Containerschiffe für die Reederei Hapag Lloyd über die Weltmeere. Heute hat er einen neuen Kurs eingeschlagen. Er gründete mit SOS Mediterranee eine Organisation zur zivilen Seenotrettung im Mittelmeer. Von seinen Aufgaben, seinen Ängsten und seinem Versprechen an Lampedusas Bürgermeisterin erzählt er im Interview.

Frage: Sie sind jetzt 59 Jahre alt. Vor mehr als 40 Jahren, mit 18, sind sie das erste Mal auf See gefahren. Gab es damals Flüchtlingsboote?

Klaus Vogel: Es gab auf meiner ersten Reise auf einem Frachter zwar keine Flüchtlinge, aber es gab schon immer einzelne Menschen, die sich auf Schiffe geflüchtet haben, um schlimmen Verhältnissen zu entkommen. Blinde Passagiere. Ich habe so etwas mehrmals erlebt. Auch das Phänomen einer großen Fluchtbewegung über das Meer habe ich erlebt. Vor 35 Jahren sind Hunderttausende von Südvietnam aus in das Chinesische Meer geflohen.

Das war eine riesige Flüchtlingswelle, die sich da in kleinen Booten auf das Meer gewagt hat. Viele sind umgekommen. Im Übrigen: Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger ist vor 150 Jahren wegen ebensolcher Ereignisse gegründet worden. Europäische Auswanderer sind damals auf ihrem Weg nach Amerika vor der deutschen Nordseeküste in Seenot geraten. Das ist ein uraltes Thema. Flüchtlinge sind immer über das Meer gezogen – trotz der Gefahren. Und es gab auch immer die Notwendigkeit, Menschen dort zu retten.

Vor diesem Hintergrund und mit ihren Erfahrungen – schauen Sie anders auf das Meer?

Vogel: Ja, aber das liegt nicht an den Flüchtlingen. Man schaut anders aufs Meer, wenn man zur See fährt. Man erlebt schließlich nicht nur das blaue Meer und die strahlende Sonne, sondern auch Sturm, hohe See und Kälte. Das Meer ist extrem gefährlich, wenn man nicht hinreichend gut ausgerüstet ist. Das Erste, was man als Seemann lernt, ist Sicherheit auf See. Dazu gehört der eigene Schutz, der Schutz der eigenen Besatzung. Das ist Teil unserer Ausbildung und auch Teil unserer Moral. Man hilft sich auf See gegenseitig.

Bei Handelsschiffen sind die Prioritäten anders gesetzt.

Vogel: Die Handelsschiffe haben eine andere Aufgabe, als primär Menschen zu retten. Handelsschiffe haben das Ziel, die Ladung über die See zu transportieren. Sie stehen unter einem strikten Zeitdiktat. Da ist es nicht immer selbstverständlich, dass das Retten an erster Stelle steht. Jedes Schiff hat seine eigene Aufgabe. Die Schiffe der Küstenwachen haben das Ziel, die Küsten zu sichern. Die einzigen, die ausschließlich Seenotrettung betreiben, sind zivile Initiativen wie etwa die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Vergleichbare zivile Rettungsaktionen gibt es im Mittelmeer allerdings nicht. Auch Mare Nostrum, das Projekt der italienischen Regierung zur Seenotrettung von Flüchtlingen, war bei Marine und Küstenwache angesiedelt.

Immer wieder haben Sie erlebt, dass Menschen über das Meer geflohen sind – und dabei auch umgekommen sind. Warum sind sie jetzt selbst aktiv geworden?

Vogel: Ich wundere mich im Nachhinein auch, warum ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin. Aber wir leben eben alle unser Leben, jeder geht auf seinem Trampelpfad. Es ist nicht einfach, ihn zu verlassen.

Bei mir gab es im November 2014 einen ganz konkreten Anlass, aktiv zu werden. Damals wurde die sinnvolle und überaus notwendige italienische Rettungsaktion Mare Nostrum auf einen Schlag beendet. Europa konnte sich nicht entschließen, die Aktion fortzuführen. Das hat mich zutiefst erschüttert, weil es humanitär nicht akzeptabel ist.

Hat die europäische Politik versagt?

Vogel: Ganz sicher. Und sie versagt weiterhin. Die Politik führt eine Debatte, statt das Nächstliegende zu tun – nämlich die Menschen zu retten. Das ist die allererste Aufgabe. Parallel dazu muss man natürlich überlegen, was längerfristig gegen die Fluchtursachen zu tun ist. Aber unsere Aufgabe ist es erst einmal, die Menschen zu retten. Das dürfen wir nicht vergessen. Und wir dürfen die beiden Aufgaben auch nicht gegeneinanderstellen.

Diese Debatte in der Politik dauert bereits Monate an, gehandelt wurde bislang wenig.

Vogel: Darüber bin ich immer noch erschüttert. Aber es nützt ja nichts. Wir müssen positiv denken und konkret handeln. Wir müssen die Dinge tun, die getan werden müssen. Wir dürfen nicht in Depression und Lethargie versinken. Beginnen wir mit den guten Taten, da gibt es genug zu tun. Wenn auch die Politik von dieser Haltung geprägt bleibt, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Ihre gute Tat, das Rettungsschiff MS Aquarius, sticht am 30. Januar in See.

Vogel: Das stimmt. Die „Aquarius“ ist ein ehemaliges Fischerei-Schutzboot, das viele Jahre im Nordatlantik im Einsatz war. Sie ist ausgerüstet mit großen Räumen unter Deck und mit einem Hospital, in dem unsere Partner von der Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ arbeiten können. Wir haben Platz für 200 bis 500 Menschen, die wir unter Deck unterbringen können. Wir können also viele Menschen, die wir gerettet haben, angemessen versorgen.

Ihr erster Weg führt Sie nach Lampedusa.

Vogel: Bereits wenige Monate nachdem ich den Entschluss zu diesem Projekt gefasst habe, bin ich mit meiner Frau nach Lampedusa gefahren. Dort haben wir mit der Bürgermeisterin, mit Ärzten, mit den Besatzungen der Küstenwachschiffe und mit Bewohnern der Insel gesprochen. Es war ganz klar, dass zu dem Zeitpunkt niemand außerhalb der Insulaner mit der Seenotrettung befasst war. Es bestand also eine unglaubliche Notwendigkeit, aktiv zu werden. Wir sind im März 2015 mit dem Versprechen von Lampedusa weggefahren, dass wir mit einem großen Schiff wiederkommen. Das wollen wir jetzt einlösen.

Worüber sorgen Sie sich bei dieser Mission?

Vogel: Es gibt viele Dinge, vor denen ich Sorge habe. Bei einer Seenotrettung handelt es sich um Menschen in höchster Lebensgefahr. Retten ist immer lebensgefährlich – auch für die Retter selbst kann es gefährlich sein. Um zu helfen, muss man sich der Gefahr stellen. Ähnlich wie ein Feuerwehrmann, der Menschen auch aus einem brennenden Haus rettet und sein eigenes Leben riskiert. Seenotrettung ist keine leichte Aufgabe, aber wir können ihr nicht ausweichen. Im Übrigen: Wenn ich mit einem großen Containerschiff auf ein Flüchtlingsboot stoße, bin ich auf eine solche Begegnung kaum vorbereitet.

Im Gegensatz dazu sind wir sehr gut ausgestattet und trainiert. Der Rest liegt in Gottes Hand. Wir müssen hoffen, dass wir rechtzeitig kommen und das Bestmögliche tun können.

Lampedusa war seit vielen Jahren das primäre Ziel der Flüchtlinge. Heute scheint es vor allem die griechische Küste zu sein.

Vogel: Die Flüchtlinge kommen nach wie vor in großer Zahl von Libyen nach Lampedusa und nach Sizilien. Das hat kaum abgenommen. Parallel dazu hat sich die Zahl der Flüchtlinge, die sich von der Türkei nach Griechenland aufmachen, drastisch verstärkt. Zwischen der Türkei und Griechenland sind es nur wenige Meilen, man kann hinübergucken. Die Menschen dort versuchen oft in ganz kleinen Booten, ans andere Ufer zu gelangen, und unterschätzen die Überfahrt. Von Libyen starten sehr viel größere, aber ebenso gefährdete Schlauchboote. Diese Menschen schweben ab dem Moment, in dem sie die Küste verlassen, in absoluter Lebensgefahr. Die Zahl der Menschen, die in Libyen darauf warten über das Meer zu flüchten, ist immer noch unglaublich groß.

Glauben Sie, dass sich die Flüchtlingssituation in einem Jahr entspannen wird?

Vogel: Ich hab die Vermutung, dass es noch viele, viele Flüchtlinge gibt, die sich dieser Gefahr aussetzen. Die Flüchtlingsströme werden sich verändern, aber ich glaube nicht, dass sie schnell enden werden. Nach allem was wir hören, sind die Verhältnisse im Nahen Osten und in Afrika in der Summe schlimmer geworden und die Zahl der Menschen, die sich auf den gefährlichen Weg begeben, wird wohl eher ansteigen.

Was müsste sich ändern, um diese Zahl zu reduzieren? Es wurde etwa immer wieder über härtere Strafen für Schlepper diskutiert. Halten Sie das für den falschen Weg?

Vogel: Das ist eine politische Frage. Es ist das ganze Jahr 2015 hindurch versucht worden, gegen die Schlepper vorzugehen. Aber das hat nicht funktioniert. Angesichts der vielen Menschen und deren Not hat es auch etwas Zynisches. Wir sollten in Deutschland nicht vergessen, dass alle, die den Menschen damals bei ihrer Flucht von der DDR in die Bundesrepublik geholfen haben, Fluchthelfer genannt wurden und nicht Schlepper. Der Begriff der Schlepperei setzt eine bestimmte Perspektive voraus. Aus Sicht der Menschen, die in Not sind und flüchten, sind die Schlepper Fluchthelfer.

Wie wichtig ist die Politik bei Ihrer Arbeit?

Vogel: Sie ist natürlich eine Dimension, mit der wir alle stark befasst sind. Aber wenn wir nur auf dieser Ebene denken, verstricken wir uns in endlose Debatten. Mir ist es wichtig, dass neben allen notwendigen Debatten die ganz konkrete gute Tat ihren Raum hat. Wir, die europäische Zivilgesellschaft, müssen uns daran erinnern, was wir selbst tun müssen. Insofern ist es auch ein Statement, dass wir über alle Ängste und über alle Diskussionen die einfache, konkrete gute Tat nicht vergessen dürfen.

Im Sommer haben viele Ehrenamtliche selbst mit angepackt, Gutes getan. . .

Vogel: Das tun sie weiterhin. Nach wie vor engagieren sich viele Ehrenamtliche. Die Flüchtlingsräte sind überall aktiv. Es gibt so viele Gruppen, die etwas für die Flüchtlinge tun. Das hat nicht abgenommen.

Dennoch kippt die Stimmung in Deutschland. Von einem optimistischen „Wir-schaffen-das“ hat es sich zu einem „Schaffen-wir-das“ gewandelt.

Vogel: Die Debatte hat sich geändert. Das betrifft zum Glück nicht unser Projekt. Die Unterstützung ist weiterhin stark und nachhaltig. Dass in der gesamten Gesellschaft der Gedanke, den Flüchtlingen zu helfen, an die Seite gedrängt wird, finde ich bedauerlich. Es ist eine humanitäre Aufgabe, Menschen in Not zu helfen. Daran ändert sich nichts, daran darf sich auch nichts ändern. Klar, wir können nicht jedem auf der Welt helfen, aber wir sollten nach wie vor das tun, was nötig ist.

Menschen wie Sie holen ja erst die ganzen Flüchtlinge ins Land – wurden Sie für ihr Engagement auch mit solchen Vorwürfen kritisiert?

Vogel: Es gibt schon solche Bemerkungen. Aber wenn ich die Leute frage, ob sie die Flüchtlinge ertrinken lassen würden, sind sie meist still. Es ist eine ganz konkrete Aufgabe, Menschen vor dem Tode zu retten. Würden wir die Menschen nicht retten, sind sie aufgrund unseres Nichthandelns zum Tode verurteilt. Das ist unterlassene Hilfeleistung. Da machen wir uns im Straßenverkehr schuldig und genauso schuldig machen wir uns im Mittelmeer.

Klaus Vogel: Vortrag in Würzburg

Der Kapitän und promovierte Historiker Klaus Vogel steuerte zum Herbst 2014 Containerschiffe für die Reederei Hapag Lloyd. Nach Auslaufen des Seenotrettungsprojekts „Mare Nostrum“ gründete der heute 59-Jährige mit SOS Mediterranee eine europäische Organisation zur zivilen Seenotrettung im Mittelmeer.

SOS Mediterranee ist eine zivile, europäische Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Sie wurde im Mai 2015 in Berlin gegründet. Im Juni 2015 folgte die Gründung der französischen Dependance. Als zentrale Ziele definiert die Organisation unter anderem die Rettung von Menschen in Seenot, die medizinische Notfallbehandlung an Bord der Rettungsschiffe und die Vermittlung der Flüchtlinge an unterstützende Einrichtungen in Europa. Am 30. Januar startet das von SOS Mediterranee gecharterte Schiff MS Aquarius zu seinem ersten Rettungseinsatz ins Mittelmeer.

Am Mittwoch, den 20. Januar ist Klaus Vogel zu Gast in Würzburg. Der gebürtige Hamburger hält um 19:30 Uhr in der Zehntscheune des Juliusspital Würzburg einen Vortrag zum Thema „Ein Rettungsschiff fürs Mittelmeer - das Projekt SOS Mediterranee.“ text: sas

Der Kapitän Klaus Vogel möchte helfen.
| Der Kapitän Klaus Vogel möchte helfen.
Die MS Aquarius nimmt Kurs auf das Mittelmeer.
Foto: SOS Mediteranee, DPA | Die MS Aquarius nimmt Kurs auf das Mittelmeer.
 
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