Als sich im vergangenen Jahr Hunderttausende Menschen auf den Weg nach Europa machten, fuhr ihnen Christian Ludwig mit anderen freiwilligen Helfer der Mobilen Flüchtlingshilfe entgegen. Der 23-jährige Kinderkrankenpfleger und Student aus Würzburg konnte die Bilder von frierenden und verzweifelten Menschen nicht mehr ertragen. Also brachte er mit den Hilfskonvois warme Kleidung zu den Flüchtlingen, verteilte Essen und half in Griechenland Boote an Land zu ziehen. Was er bei seinen Fahrten durch Europa erlebt hat, erzählt er an diesem Mittwoch in der Posthalle Würzburg. Wir haben mit ihm über die Zustände in den Camps, dramatische Rettungsaktionen und fehlende Menschlichkeit gesprochen.
Frage: Die Mobile Flüchtlingshilfe hat in den vergangenen sechs Monaten 13 Hilfsfahrten organisiert. Wo waren Sie überall mit dabei?
Christian Ludwig: Unsere erste Fahrt ging im November nach Dobova in Slowenien und Slavonski Brod in Kroatien, da haben wir unser Team aufgeteilt. Eine Gruppe ist weiter nach Dimitrovgrad an der serbisch-bulgarischen Grenze gefahren. Ich bin mit ein paar anderen in Slavonski Brod geblieben. Im Januar war ich dann in Calais und Dunkerque in Frankreich. Und im Februar war ich einen Monat lang auf der griechischen Insel Chios.
Wie unterscheiden sich die Flüchtlingscamps voneinander? Wie sah ihre Arbeit dort aus?
Ludwig: In Slavonski Brod waren wir in einem polizeigeführten Camp, in dem es strikte Regeln gab, denen man sich unterordnen musste. Die Versorgung der Menschen war aber, weil es ein Transitcamp war und weil es in Kroatien war, relativ okay. Dort haben wir vor allem in der Kleiderkammer gearbeitet und Klamotten verteilt. In Calais und Dunkerque haben wir bei der Essensausgabe geholfen. Calais ist aber nicht nur ein Camp, sondern eher so etwas wie eine kleine, illegale Stadt. So wie es auch in Dunkerque war. Dort wurde das Lager aber zum Glück verlagert und mit Schotter aufgefüllt. Es ist jetzt nicht mehr ganz so schlimm wie es im Januar war, als ich dort war. Chios ist wiederum komplett anders. Da kommen die Leute mit dem Boot an und dann musst du sie da rausholen. Außer freiwilligen Helfern ist da keiner der ihnen hilft. Als Helfer ist man nicht eingeschränkt und kann so handeln, wie man es für richtig hält. Andererseits passieren da auch Dinge, da denkt man: Dass kann doch nicht sein, dass da jetzt keiner ist?
Was für Dinge zum Beispiel?
Ludwig: Da ist niemand von Behörden- oder Regierungsseite. Ich hätte gedacht, dass da wenigstens irgendjemand ist. Aber keiner ist da, um zu helfen. In den großen Camps werden die Menschen zum Beispiel vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR betreut. Lebensmittelversorgung schaffen sie leider nicht – Frühstück, Mittagessen, Abendessen übernehmen auch Freiwillige. Es sind auch die freiwilligen Helfer, die Volunteers, die Leute aus dem Wasser rausziehen. An einem Tag hatten wir über 27 Boote.
Gab es tote Flüchtlinge?
Ludwig: Wir hatten zwei tote Kinder. Bei einem wussten wir, dass es tot ankommt. Das war schon auf See klar. Die Geschichte mit dem anderen Kind geht mir immer noch ziemlich nah. Als das Boot ankam, dachten wir, es sei ein ruhiges Boot. Wir hatten ja davor schon zig Boote gehabt und es war immer das Gleiche: Mal hatte jemand einen Finger verknackst oder eine offene Stelle oder ein verstauchtes Bein. Als Krankenpfleger war ich in dem Rettungsteam. Eine Helferin hat ein Kind ohne Muskeltonus in die Hände gedrückt bekommen. Daraufhin hat sie „Reanimation“ geschrien und die Stimmung ist gekippt. Von Ruhe zu völlige Panik. Aber es war niemand da, um zu helfen.
Außer den Freiwilligen . . .
Ludwig: Ja. Von unserer Gruppe waren wir sechs oder sieben Leute. Aber am Strand ist niemand von der Regierung oder von den großen Hilfsorganisationen. Das sind alles Gruppen von Volunteers, die Tag und Nacht die Küste abfahren, die Leute einkleiden, wenn sie durchnässt aus dem Wasser kommen, ihnen heißen Tee in die Hand drücken und sie medizinisch versorgen.
Wie ging die Rettung weiter?
Ludwig: Wir haben versucht das Kind zu reanimieren. Der Junge war zwei Jahre alt. Wir haben alles versucht, aber er ist gestorben. Viele haben geweint. Ich bin zur Seite und habe mich übergeben. Ich habe mein Zeug zusammengepackt und versucht mich zu sammeln. Dann schaue ich plötzlich nach links und da liegt eine alte Frau, die keiner bemerkt hat. Mit Schocksymptomatik. Das kann schnell zum Tod führen. Ich bin zu ihr hin und wollte sie in Schocklage bringen. Ein Mann kam dazu und sagte, dass es seiner Frau auch nicht gut gehe, sie habe ein gebrochenes Bein. Da dachte ich: was ist denn hier los? Wir haben alle bestmöglich versorgt. Ich habe noch einmal einen Rundgang gemacht, weil in kurzer Zeit so viele schlimme Sachen passiert sind und ich Angst hatte, etwas übersehen zu haben.
Kaum war ich ein paar Meter weiter, kam ein Mann zu mir und sagte, dass es seiner Frau nicht gut gehe. Sie habe vor drei Monaten eine Gehirnoperation gehabt.
Kommen auch mal Boote an und keiner nimmt die Flüchtlinge in Empfang?
Ludwig: Ein Boot haben wir mal verpasst. Eine Stunde später haben wir die Menschen dann zum Teil mit ausgerenkter Schulter und offenen Wunden gefunden. Über Hundert Menschen sind orientierungslos herumgeirrt. Die Gruppe stand mitten auf der Hauptstraße. Wir haben sie versorgt und auch am nächsten Morgen ernährt, weil die das in den Camps nicht gebacken kriegen.
Wie sieht die Versorgung in den Camps aus?
Ludwig: Wir haben auf Chios täglich Essen für mehrere Hundert Leute gemacht. Es ist echt erschreckend, wie krass der Unterschied in den Camps ist. In den Balkanstaaten war die Versorgung gut. Klar, dass waren ja auch Transitcamps. Aber in Griechenland gibt es so eine lange Küste, das Land hat nicht das Geld dafür, sie zu kontrollieren und abzufahren. Da muss der Rest von Europa helfen. Aber niemand ist da. Das ist echt erschütternd.
Wie sieht es mit der Unterstützung von Seiten der Behörden aus?
Ludwig: Die Arbeit der Behörden ist jedes Mal unterschiedlich. Auch die Einmischung bei den Helfern: Was darfst du, was darfst du nicht? Musst du die Behörden austricksen? Wie bekommst du jetzt ein Zelt rein für eine Familie, die in dem Camp hockt und seit zwei Tagen im Freien schläft? Auch wenn es regnet. Aber die sagen, es darf kein Zelt reingebracht werden. Also packst du es halt ins Auto, packst die ganzen Essenspakete drauf und schmuggelst es irgendwie rein.
Erschweren die Behörden manchmal die Arbeit der freiwilligen Helfer?
Ludwig: Ja. Eigentlich ist es immer schwierig. Wobei man sagen muss, wenn die nicht da wären, wäre es noch schlimmer. Es ist schon krass. Wir Freiwilligen spielen den Behörden ja irgendwie noch zu in ihrem Tun.
Was meinen Sie damit?
Ludwig: Da passieren Sachen, die wir Helfer überhaupt nicht in Ordnung finden. Verstöße gegen die Menschenrechte. Aber wenn alle Volunteers in Europa streiken würden, dann hätten wir wahrscheinlich unzählige Tote, Kranke, Aufstände. Dann würde vielleicht aber auch von den Regierungen mehr kommen. Ich habe so das Gefühl, dass wir freiwilligen Helfer denen ihre Arbeit abnehmen.
Auf Chios haben sich ja die Hilfsorganisationen und viele Freiwillige zurückgezogen aus Protest gegen die Zustände in den Camps dort . . .
Ludwig: Genau. Was auf Chios gerade passiert, kann man sich nicht vorstellen. Die Leute kommen mit dem Boot an und dann werden sie mit dem Bus in das Camp Vial gefahren, das ist ein Hotspot. Da werden sie eingesperrt. Da ist hoher Maschendrahtzaun außenrum. Also eigentlich ist das ein Gefängnis für Frauen und Kinder. Für Männer, die nichts verbrochen haben, die nur vor Krieg fliehen. Und dann hocken die da und wissen nicht wie es weitergeht. Die Versorgung ist schlecht. Und NRC, also Norwegian Refugee Council, das das Camp in Vial geleitet hat, sagte, wir unterstützen so etwas nicht. Wir wollen nicht ein Gefängnis für Kriegsflüchtlinge leiten oder mitzuhelfen zu leiten.
Daher haben die sich zurückgezogen. Die Bedingungen sind dort jetzt noch schlechter geworden. Die Essensverteilung bekommen die nicht hin. Von uns waren andere Leute auf Chios, die sind noch länger geblieben als ich. Die haben zeitweise Essen durch den Zaun gesteckt, obwohl das verboten ist.
Warum ist das verboten?
Ludwig: Vielleicht weil sie nicht wollen, dass die Flüchtlinge Nachrichten nach draußen geben, und berichten wie schrecklich es dort drinnen ist. Aber solche Dinge passieren bei allen unseren Hilfsfahrten. In Griechenland zum Beispiel hat der Zoll unsere beiden Autos mit Hilfsgütern für fünf Tage beschlagnahmt.
Mit welcher Begründung?
Ludwig: Sie haben gesagt, dass das, was wir tun, wäre ja irgendwie Arbeit und es könnte ja sein, dass wir einen wirtschaftlichen Nutzen daraus ziehen. Manchmal denkt man, die machen das absichtlich. Dann gibt es aber auch wieder gute Momente. Die griechische Polizei ist eigentlich recht nett. Das ist auch wieder der Unterschied zu den Balkanstaaten, da gab es riesige Probleme mit Polizeiwillkür.
Was war das bewegendste Erlebnis?
Ludwig: Die emotionalste Geschichte, die ich je hatte, ist in dem Zusammenhang mit dem Tod des kleinen Jungen passiert. Da war eine Frau. Nach dem Versuch der Reanimation war sie neben mir, ich habe meinen Rucksack zusammengepackt, viele haben geweint. Ich habe die Frau am Boden weinen sehen, bin hingegangen und habe sie umarmt. Einfach so. Ich hab da mit der Frau und der Familie gesessen. Wir haben uns umarmt und haben uns immer fester gedrückt. Dann habe auch ich geweint. Als ich dann aufgestanden bin, um nach den anderen Leuten zu sehen, hat sie mir einen Kuss auf die Stirn gegeben und hat irgendetwas auf Arabisch gesagt. Das war ein bewegender Augenblick. So wie auch die Beerdigung des Jungen. Wir haben die Familie betreut. Die Beerdigung war schlimm für die Familie, auch weil es ein christlicher Friedhof war.
Das war eine muslimische Familie?
Ludwig: Ja, genau. Wir waren mit der Familie in sehr engem Kontakt. Auch mit den Kinder. Es ist schön zu spüren, dass man diese Nähe hat. Unabhängig von Religion, Hautfarbe, Aussehen, Herkunft, Sprache – das Zwischenmenschliche ist gleich.
Gibt es so etwas wie ein ideales Flüchtlingscamp? Wie muss es aussehen?
Ludwig: Wir waren bisher immer in den Camps, wo dringend Hilfe nötig war. Wo es gut läuft, das bekommen wir nicht so mit. Ein gutes Camp ist ein Camp, wo die Menschen sich frei bewegen können, wo sie medizinische Versorgung bekommen, sie Zugang zu Toiletten und Duschen haben, Essen können, ein Bett haben. Wo jede Familie noch ihren Freiraum hat. Bei manchen Camps klappt das. Da gibt es Container für Familien, Duschen oder ein Gebetszelt. Woran es aber in allen Camps mangelt, ist Menschlichkeit.
Mobile Flüchtlingshilfe: Die nächsten Fahrten und Ziele
Im Herbst 2015 wurde die Gruppe von Christian Ludwig, 23, und Vera Hoxha, 37, aus Würzburg und Julie Michelle Brustmann, 21, aus dem Sauerland ins Leben gerufen. Sie organisiert Hilfsfahrten zu den Flüchtlingsrouten und -Camps entlang der EU-Grenze.
13 Hilfskonvois sind in den vergangenen sechs Monaten von Unterfranken aus nach Slowenien, Kroatien, Serbien, Frankreich und Griechenland gefahren. Unterstützt und begleitet wurden die drei Gründer von vielen freiwilligen Helfern. Geld und Hilfsgüter sammelt die Gruppe vor allem über ihre Facebook-Seite.
Die Gründung eines Vereins ist Ziel der Mobilen Flüchtlingshilfe, um auch Spendenquittungen ausstellen zu können. „Dadurch erhoffen wir uns auch mehr Spenden, um noch mehr helfen zu können“, sagt Christian Ludwig. Bisher lief alles über ein privates Konto. „Wir finden es toll, dass die Leute so viel Vertrauen zu uns haben. Aber wir wollen jetzt alles offiziell machen.“
Die nächsten Fahrten will die Mobile Flüchtlingshilfe nach Griechenland organisieren, auch wieder nach Chios. Die Helfer planen außerdem, in dem vom Militär geführten Camp bei Filippiada auf dem Festland ein Teezentrum einzurichten. Das griechische Militär hat den Helfern bereits ein großes Zelt zur Verfügung gestellt.
Öffentlicher Vortrag: Christian Ludwig berichtet an diesem Mittwoch, 20. April, um 19.30 Uhr in der Posthalle in Würzburg über die Fahrten. Titel der Veranstaltung: „Einfach machen – Einblicke in die Mobile Flüchtlingshilfe“. Eintritt ist frei. ANI