Beim Wort „Exorzismus“ fällt vielen Menschen ein bestimmter Fall ein, obwohl er über 40 Jahre zurückliegt: die vom Würzburger Bischof genehmigte Dämonenaustreibung bei Anneliese Michel in Klingenberg. Die kleine Stadt am Main im Landkreis Miltenberg wurde damals weltberühmt. Um diesen Exorzismus-Prozess geht es in dieser Folge unserer Serie Gelöste Kriminalfälle.
Die Umstände, die am 1. Juli 1976 zum Tod der 23-jährigen an Epilepsie erkrankten Pädagogikstudentin führten, waren Stoff für Spielfilmproduktionen wie „Der Exorzismus der Emily Rose“ (2005) und „Requiem“ (2006). Auch TV-Dokumentationen beschäftigten sich ausführlich mit den Vorkommnissen in Klingenberg. Sachbuchautoren versuchten eine Interpretation. Die erschütternden Tonbandaufnahmen, die während des insgesamt 67 Mal zwischen September 1975 bis Juni 1976 durchgeführten Großen Exorzismus entstanden sind, geistern noch heute durchs Internet.
Kurzer Rückblick: Anneliese Michel wuchs in einer tiefreligiös-konservativen Familie auf. Als Teenager begann sie unter Krämpfen zu leiden. Sie sah „Fratzen“ und glaubte, von Dämonen besessen zu sein. Die medizinische Diagnose lautete: Epilepsie, die sich am Ende zu einer schweren Psychose ausweitete. Michel war bis 1973 regelmäßig in neurologischer Behandlung.
Pfarrer bittet um Großen Exorzismus
Der Bischof von Würzburg, Josef Stangl, wurde im Sommer 1975 von Pfarrer Ernst Alt (damals Ettleben/Werneck) um Erlaubnis zum Großen Exorzismus gebeten, ein Ritual aus Gebeten, Befragungen, Befehlen, Besprengen mit Weihwasser und Segnung. Nach einem Gutachten des Jesuitenpaters Adolf Rodewyk, der als Exorzismusexperte galt und von der Besessenheit Anneliese Michels überzeugt war, genehmigte Bischof Stangl im September 1975 die Teufelsaustreibung. Mit der Durchführung wurde der Salvatorianerpater Adolf Renz (damals Rück-Schippach) betraut.
Wahre Todesumstände weiter unklar
Die Exorzismen wurden ohne gleichzeitige medizinische Betreuung durchgeführt. Anneliese Michel verletzte sich selbst, schlug um sich, schrie, sprach mit verzerrter Stimme, verweigerte das Essen – und starb letztlich an extremer Unterernährung. Bis heute sind Spekulationen über die „wahren“ Todesumstände der 23-Jährigen sowie ihre „dämonischen Botschaften“ in religiös-konservativen Kirchenkreisen in Umlauf.
2014 erschien die Doktorarbeit der Würzburger Historikerin Petra Ney-Hellmuth, die erstmals Kirchen- und Justiz-Dokumente und das Pressearchiv im Würzburger Staats- sowie Diözesanarchiv auswerten konnte („Der Fall Anneliese Michel“, Könighausen & Neumann). Und jüngst sind in dem von Petra Chichos herausgegebenen Buch die Akten den Angaben zufolge „komplett“ veröffentlicht worden („Todesakte Teufelsaustreibung“, Chichos Press).
Für Aufregung und ein enorm großes Medieninteresse sorgte nach dem tragischen Tod der jungen Frau der Strafprozess, der im Frühjahr 1978 am Landgericht Aschaffenburg eröffnet wurde. Es gab Proteste, die laut Ney-Hellmuth auch in Briefen, etliche anonym, an das Gericht gesendet wurden. Tenor war: Ein weltliches Gericht könne niemals über religiöse Glaubensgrundsätze entscheiden, hieß es in Zuschriften an die Richter. Die Besessenheit sei nicht mit ärztlichen Methoden zu heilen, nur ein Exorzist könne Betroffenen helfen. Die Eltern und die beiden Geistlichen hätten richtig gehandelt.
Urteil wegen fahrlässiger Tötung
Das Gericht war anderer Meinung. Am 21. April 1978 verurteilte es die Eltern sowie Pater Arnold Renz und Pfarrer Ernst Alt wegen fahrlässiger Tötung zu je einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung. Sie hätten es unterlassen, ärztliche Hilfe herbeizuholen, was ihrer Pflicht gewesen wäre, so die Richter.
Sie gingen mit diesem Strafmaß über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus, folgten ihr aber in dem Grundsatz, „dass nicht der Glaube der Angeklagten oder die Frage nach der Realexistenz des Bösen Gegenstand der Verhandlung gewesen seien, sondern deren versäumte Verpflichtung, lebensrettende Maßnahmen einzuleiten und einen Arzt hinzuziehen“, fasst Historikerin Petra Ney-Hellmuth die juristische Auffassung zusammen.
Der Würzburger Strafrechtsprofessor Eric Hilgendorf setzte sich 2009 in seinem Aufsatz „Teufelsglaube und freie Beweisführung“ mit der Verarbeitung des „Übernatürlichen im Strafrecht am Beispiel des Exorzismus auseinander. Auf Anfrage bestätigt Hilgendorf, dass sich am Grundsatz der deutschen Rechtsprechung, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert eindeutig naturalistisch orientiert, bis heute nichts geändert habe. „Das heißt“, so Hilgendorf, „die Rechtsprechung beruht auf Grundlage der wissenschaftlichen Weltanschauung, wie sie von den Naturwissenschaften vorgegeben wird“.
Die Aschaffenburger Richter hätten diese wissenschaftliche Perspektive eingenommen, die auch bei religiösen Sachverhalten gelte – im Fall Anneliese Michel also für das Christentum. Auch wenn andere Religionen und deren Anschauungen vor Gericht eine Rolle spielten, gebe es keine Ausnahme. Die Aschaffenburger Richter haben laut Hilgendorf „eine kritische Distanz zu den eigengearteten Argumentationsformen“ zu wahren versucht – in diesem Fall der Glaube an das Eingreifen von überirdischen Instanzen. „Dieser Aspekt kann vor Gericht keine Rolle spielen.“
Der Katholizismus in Mitteleuropa akzeptiert die wissenschaftliche Grundeinstellung der Rechtsprechung, so Hilgendorf. „Der Islam aber tut das nicht.“ Was damals im Fall Anneliese Michel fürs Christentum diskutiert worden sei – Wer hat das Primat, das kirchliche oder das staatliche deutsche Recht? – wird künftig wieder öfter verhandelt werden müssen in Bezug auf muslimische Rechtsvorstellungen.“ Mit diesen und anderen Fragen beziehungsweise dem Zusammenprall von kulturellen Vorstellungen und dem Recht befasst sich das vor zehn Jahren von Hilgendorf an der Universität Würzburg gegründete Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK).
Die Richter in Aschaffenburg seien sich vor 40 Jahren der Brisanz des Verfahrens durchaus bewusst gewesen, so Ney-Hellmuth, bis dahin habe es kein vergleichbares Verfahren gegeben. Die Reaktion auf das Urteil folgte sofort: Die katholisch-konservativen Kritiker des Aschaffenburger Gerichts Urteils sahen das Gericht als voreingenommen und damit „schuldig“ an – nicht die Angeklagten.
Auch innerkirchlich wurde diskutiert: nicht um die weltliche Gerichtsbarkeit, sondern um die Realexistenz des Bösen und die Aussagen von Bischof Josef Stangl dazu. Er gab erst im August 1976 eine Erklärung ab, unter anderem: „Es ist zu verstehen auf dem Hintergrund der jeweiligen Zeit und aus dem Zusammenhang, in dem es steht.“ Die Bischofskonferenz und der Vatikan waren allerdings keineswegs einverstanden, „biblische Begrifflichkeiten über das Böse vor dem jeweiligen zeitlichen und kulturellen Hintergrund zu interpretieren“, so Ney-Hellmuth.
Infolge der Ereignisse wurde der Exorzismus, dessen Ablauf im Rituale Romanum geregelt ist, geändert. Mediziner und Psychologen müssen seither bei Dämonenaustreibungen zu Rate gezogen werden.
Der Glaube an die Existenz des Teufels ist bis heute lebendig. Papst Franziskus hat im März 2017 laut einer Meldung der Katholischen Nachrichtenagentur den Exorzismus bei spirituellen Beschwerden als unverzichtbar bezeichnet. Und vor einigen Monaten rief er die Gläubigen auf, den Rosenkranz zu beten und um den Schutz der Kirche gegen den Teufel zu bitten, der die Menschen von Gott und untereinander zu spalten suche. Das Thema war jedoch nicht Exorzismus, vielmehr sexueller Missbrauch. Die Kirche müsse sich ihrer Schuld immer bewusster werden und konsequent dagegen vorgehen, so das Kirchenoberhaupt in seiner Predigt.