Es plüscht in dem Gewölbekeller. Um die Ecke windet sich ein braun-geblümtes Samtsofa mit flauschigen Kissen, auf dem Boden liegen dicke Teppiche. Das Klavier wird von roten Kerzen flankiert und eine Stehlampe mit Pergamentschirm taucht den Raum in mattes Licht. „Willkommen in Oma Uschis Wohnzimmer“, sagt Marco Imhof. Die alte Dame sei auf Weltreise gegangen, um ihren Lebensabend zu genießen. „In einem Brief hat sie euch mitgeteilt, dass sie euch ihren Goldschatz hinterlassen hat – versteckt hier in ihrem Zimmer“, erklärt der 26-Jährige. Das Geld gilt es nun zu finden, in 60 Minuten. Imhof blickt in ratlose Gesichter. Er lässt die Gruppe alleine, die Tür fällt ins Schloss, und die Digitaluhr mit den leuchtend roten Ziffern über dem Sofa beginnt zu ticken.
Oma Uschis Wohnzimmer ist ein sogenanntes Exit- oder Live Escape Game (aus dem Englischen von exit = verlassen oder escape = fliehen). Die Idee erinnert an Abenteuerspiele am Computer: Wie die Kinderbuch-Detektive „Die Drei Fragezeichen“ müssen die Spieler kombinieren, Rätsel lösen und Hinweise finden, um am Ende den Raum wieder verlassen zu dürfen. Zeit haben sie genau eine Stunde.
„Das Ganze funktioniert wie eine Schnitzeljagd im Zimmer“, sagt Marco Imhof. Er ist seit eineinhalb Jahren Spielleiter bei der Firma ExitGames in Würzburg. Drei Räume stehen hier zur Auswahl: Secret Service, Villa M und der 60er-Jahre-Raum von Oma Uschi.
Wie eine Schnitzeljagd im Zimmer
Und in dem geht jetzt ein Ruck durch die Gruppe, die Suche beginnt. Martin nimmt sich das Bücherregal vor, streicht über die Buchrücken, späht dahinter. Bianca überprüft das Klavier, klimpert über die Tasten. Nichts. Lohnt es sich, das Sofa zu verschieben? „Die Oma war nicht mehr die Jüngste“, tönt Marco Imhofs Stimme aus dem Off. Per Walkie-Talkie kann er der Gruppe Ratschläge geben oder wie in diesem Moment vor „unnützen Kraftakten“ warnen. Manfred entdeckt ein Schloss an einer Schreibtischtüre, der Schlüssel fehlt allerdings. Jérôme tastet die alte Kaminuhr auf dem Schrank ab, öffnet die Türen. „Ah, hier!“ Alle Blicke richten sich auf den knieenden Jura-Studenten: Passgenau steht in einem Holzfach Oma Uschis Tresor. Nur mit welchem Zahlencode lässt er sich öffnen? Der Gruppe bleiben noch 40 Minuten und 22 Sekunden.
Von Japan nach Europa: Erst Online, dann in echten Räumen
Das Konzept der Live Escape- oder Exit Games stammt vermutlich aus Japan. Dort wurde die Idee der Online-Abenteuerspiele um das Jahr 2007 herum erstmals in der Realität umgesetzt. Vier Jahre später schuf in Budapest ein Unternehmen einen Escape Room in einem Ruinenkeller, es folgten Räume in Großbritannien, der Schweiz, den Niederlanden oder Deutschland. 2013 eröffneten in München, Berlin und Köln erste Rätselräume, mittlerweile gibt es bundesweit weit über hundert. In der Würzburger Bahnhofstraße wird seit 2015 kombiniert. „Im Schnitt betreuen wir jeden Tag vier Spiele, am Wochenende mehr“, sagt Marco Imhof. Zum Rätseln kommen Studenten, Familien, Freundesgruppen und Firmen. Warum?
„Spiele erzählen Geschichten und sind zugleich herausfordernd“, sagt der Geschäftsführer des Bundesverbandes für Interaktive Unterhaltungssoftware, Maximilian Schenk. Viele Elemente aus Computerspielen böten auch Exit Games: „Gemeinsam mit anderen lässt sich ein Abenteuer erleben, bei dem die eigenen Entscheidungen den Ausgang bestimmen.
“ Generell sei Spielen durch Smartphones und Tablets heute auch bei älteren Zielgruppen wieder populär. „Ein bisschen Entdeckerdrang liegt einfach in unserer Natur“, sagt Marco Imhof. Denn „Menschen sind neugierig und wollen möglichst schnell Erfolge erleben.“ Deswegen gilt es, in den Räumen viele kleine Rätsel zu lösen und immer wieder neue Spuren zu verfolgen.
Was hat es mit den löchrigen Lederfetzen auf sich?
Wie passen ein mit Zahlen bedrucktes Papier und löchrige Lederfetzen zusammen? Was hat es mit den Dosierungen auf den Arzneimittelflaschen auf sich? Und warum sind auf den Bildern von John F. Kennedy und der Mondlandung Buchstaben aufgedruckt? Jérôme und Martin hocken vor dem niedrigen Couchtisch, schieben die bislang entdeckten Hinweise hin und her. Beide spielen zum ersten Mal, Martin fährt sich grübelnd durch die kurzen Locken. „Es ist unglaublich, dass man sich eine Stunde lang nur in einem Raum aufhalten kann und es so spannend ist“, sagt Jérôme. „Und dass die Zeit so schnell vergeht.“ Nach 38 Minuten sind alle Möbel abgesucht, jeder Gegenstand ist umgedreht. Der Tresor-Code aber ist noch immer ungeknackt.
„Schaut euch doch noch mal den Schrank genauer an“, schaltet sich Marco Imhof über das Walkie-Talkie ein. Bianca und Manfred reagieren sofort, drehen die Porzellanschalen und Kristallgläser in den Regalen um, schütteln die eiserne Wärmflasche, blicken in jeden Winkel der Schubladen. Plötzlich wird Bianca stutzig, entdeckt eine neue Ziffernfolge. Ein Raunen geht durch den Raum. Spielleiter Marco Imhof bestätigt, die Gruppe kommt dem Goldschatz näher.
Der Spielleiter beobachtet von außen
Der 26-Jährige beobachtet die Spieler über Kameras von seinem Büro aus. Weiß die Gruppe nicht weiter, gibt er Tipps, mal mehrere, mal wenige. „Der Rekord im 60er-Jahre-Raum liegt bei 32 Minuten – ohne Hilfe“, sagt Imhof. An diesem Nachmittag meldet er sich drei-, viermal zu Wort: „Das ist nicht viel, und die Gruppe hat meine Hinweise gut umgesetzt.“ Insgesamt gibt es in Würzburg laut Imhof elf Spielleiter. Sie weisen die Gruppen ein, erzählen die zum Raum gehörende Geschichte und überwachen das Spiel von außen. Notfälle habe es noch keine gegeben, sagt Imhof. „Einmal hat sich allerdings ein Pärchen während des Spiels so sehr in die Haare bekommen, dass sie sich tatsächlich deswegen getrennt haben.“
Streit gibt es an diesem Nachmittag keinen. Das Schloss an der Schreibtischtüre ist inzwischen geknackt, der Hinweis auf den Arzneimittelflaschen verwertet. Die entscheidende Verbindung zwischen all den gefundenen Buchstaben und Zahlen fehlt jedoch. Noch zehn Minuten. Kopfschütteln, Schulterzucken, Blicke zum Walkie-Talkie. Noch fünf Minuten. Tatsächlich schaltet sich Marco Imhof ein – und plötzlich erscheint die Reihenfolge logisch.
Da ist das Gold!
„Versuchen wir es“, sagt Martin. Manfred liest die Ziffern vor, Jérôme gibt den Code im Tastenfeld ein. Alle Augen sind auf die Tresortür gerichtet. Es klackt. Sie springt auf. Jérôme zieht ein Holzkästchen heraus und öffnet den Deckel. Grinsend fährt er mit den Fingern durch die Ketten und Goldtaler aus Schokolade. Oma Uschis Schatz ist gefunden. „Glückwunsch“, sagt Marco Imhof und öffnet die Tür. „Ihr habt es geschafft.“ Martin und Manfred befreien die ersten Schokotaler von ihrem glänzenden Papier, kauen, strahlen. Die Zeit auf der Digitaluhr zeigt zwei Minuten und 21 Sekunden.