Vielleicht weil sich unerwartet ein kosmisches Wurmloch aufgetan hat oder der Fluxkompensator wieder mal nicht funktionierte, wurde ein Mensch aus dem Jahr 1969 ins Jahr 2019 versetzt. Nun steckt er in einer Welt, in der man ohne Programmierer-Diplom nicht einmal eine Kaffeemaschine bedienen kann oder ein Telefon (die Dinger haben keine Kabel mehr!) und in der Autos sprechen („Bei nächster Gelegenheit: bitte wenden!“). Alles ist irgendwie digital. Der Zeitreisende hat kein Programmierer-Diplom und kommt sich ziemlich hilflos vor. Und dann das!
Da hängt ein Kaugummiautomat an der Hauswand. Das rot lackierte Ding sieht beinahe noch so aus wie vor 50 Jahren, als nur Perry Rhodan und die Nasa Computer hatten. Und vor allem: Er funktioniert auch noch genau so. Voll analog! Der Zeitreisende fummelt beglückt eine Münze in den U-förmigen Schlitz. Dreht den Griff um 180 Grad, die Münze klimpert nach unten. Dreht weiter und nach einer vollen Umdrehung schlägt ein Objekt von innen gegen die Lasche über dem Ausgabefach, auf der früher – der Zeitreisende erinnert sich noch – „Thank you“ stand. Was er in seiner Hoch-Zeit als Kaugummiautomatennutzer nicht verstand, weil er noch zu klein war, um Englisch zu können.
Der Kaugummi: Klapperhart und gleich geschmacksneutral
Das Erlebnis der ebenso befriedigenden wie sinnlichen Dreh-Aktion schlägt deutlich das Ergebnis – den Kaugummi. Der ist klapperhart und nach wenigen Kau-Sekunden geschmacksneutral. Das war schon früher so. Aber um die Süßwaren ist's dem Zeitreisenden eh nie gegangen. Er wollte als Kind nur an die Schätze ran, die zwischen den bunten Kugeln glitzerten: ein klitzekleines Klappmesser; ein Ring mit garantiert echter Plastikperle – okay, der war was für Mädchen. Aber das Feuerzeug da . . . und es lag ganz weit unten! Wenn er noch ein paar Groschen reindrehte, würde es ganz sicher aus dem Fach kullern. Die dabei anfallenden Kaugummis würde er schon irgendwie loswerden.
Hartnäckig hielt sich unter seinen Freunden – allesamt Kaugummiautomatennutzer – das Gerücht, es gebe eine Technik, die ganz sicher zum ersehnten Objekt führen würde. Man müsse den Griff bis zu genau jenem Punkt drehen, da sich innen der Schacht unter der Ware öffne, dann mit der Drehbewegung innenalten und ein bisschen am Griff hin- und herrütteln. Dann würde sich praktisch der gesamte Inhalt aus dem Automaten ergießen, funkelnde Schätze ebenso wie Kaugummis (die man schon irgendwie loswerden würde).
Der Zeitreisende hat das immer wieder versucht. Ohne den erhofften Erfolg. Immer kam bloß ein einziger Kaugummi. Einmal flutschte – ausgerechnet! – ein Ring mit raus. Das Feuerzeug hat er nie gekriegt. Es war eines Tages weg. Hatte wohl ein anderer geholt, der die richtige Rütteltechnik draufhatte . . .
Heute: Sicher hinter Gitter: Und Spielzeug vom Kauzeug streng getrennt.
Der Mann aus dem vorigen Jahrhundert geht vor dem Automaten in die Knie und versucht zu erspähen, welche Schätze es denn im Jahr 2019 so gebe. Schwierig. Der Automat ist kaum durchschaubar. Ein dickes Gitter vor der Plexiglasscheibe macht es fast unmöglich, zu beurteilen, ob sich zwischen den Kaugummis überhaupt etwas anderes verbirgt.
Das Gitter hat seinen Zweck: Es soll vor Vandalismus und Automatenaufbrüchen schützen. Beides sei ein Problem, sagt Paul Brühl, Geschäftsführer des in Langenfeld/Rheinland ansässigen Verbands der Automaten-Fachaufsteller (VAFA). Der Zeitreisende kommt ins Sinnieren: Früher mussten Kaugummis und Plastiktand nicht hinter Gitter. Waren die Menschen damals weniger zerstörungswütig?
Könnte er hinter das Gitter blicken, der Zeitreisende wäre enttäuscht: nur Kaugummis. Kein Messer, kein Feuerzeug, nicht einmal Ringe! „Spielzeug und Süßwaren werden jetzt sauber getrennt“, sagt Brühl. Tand gibt's zwar noch. Doch der kommt aus anderen Automaten die im gleichen Gehäuse stecken – und er kostet mehr. Während der Kaugummiautomat 20 Cent schluckt, sind es beim Spielwarenautomaten schon 50 Cent oder sogar zwei Euro. Dafür gibt's dann, verpackt in Plastikbehälter, Monster aus Gummi oder glitzernde Flummis. Der Kick beim Dreh ist damit freilich vorbei. Denn der bestand ja gerade in der Möglichkeit, dass mit der Kaukugel etwas Spannendes aus dem Schacht hätte kullern können.
In Deutschland kamen Kaugummiautomaten nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Als der Zeitreisende Kind war, waren sie beinahe Teil des Stadtbildes. Es wurden über die Jahrzehnte immer weniger. Wer heute einen finden will, muss mit wachen Augen durch die Straßen laufen. In der Nähe von Schulen wird man bisweilen fündig. Oder bei Bus- und Straßenbahnhaltestellen.
Bundesweit wohl noch bis zu 800.000 Automaten
Deutschlandweit gebe es noch zwischen 400.000 und 800.000 Kaugummiautomaten, schätzt VAFA-Mann Brühl. 20 bis 100 Euro Umsatz im Jahr könne man pro Stück erzielen. Wer von Kaugummiautomaten leben will, muss also an die 1000 kaufen, befüllen, pflegen, reparieren. Ein Fulltime-Job mit nicht geringem unternehmerischem Risiko. Doch nicht jeder Befüller kümmert sich. Viele Geräte seien auch deswegen nicht mehr betriebsbereit, weil sie vernachlässigt würden, klagt der VAFA-Mann. So rostet mancher Automat augenscheinlich seit Jahren vor sich hin. Lack blättert ab. Hecken und Efeu wuchern darüber hinweg.
Das mag malerisch-nostalgisch aussehen. Gut findet Brühl das nicht. Es schade dem Image der Branche. Zudem enttäuschen defekte Automaten Kinder, die Geld reinstecken – und nichts dafür kriegen. Das müsse nicht sein, ist Paul Brühl überzeugt: „Wer sich engagiert, kann mit Kaugummiautomaten noch gut Umsatz machen.“ Gerade die Tatsache, dass sie analog arbeiten, könne den Reiz ausmachen: „Das finden die Kinder schon wieder spannend – so wie die gute alte Dampfmaschine.“
Sollte der Fluxkompensator wieder mal kaputt sein oder sich Wurmlöcher auftun, und der Zeitreisende dann im Jahr 2039 landen: Er hat durchaus die Chance, auch dann ein Stück aus seiner Kindheit in Form eines Kaugummiautomaten zu finden. Auch wenn er vielleicht noch länger suchen muss, bis er sich den analogen Dreh-Kick geben kann. Weil's wieder weniger geworden sind.
Die Frage nach der Hygiene/Lebensmittelsicherheit stelle ich mir noch heute aber jedes Mal, wenn ich so ein rotes Ding an einer Hauswand sehe...