Vor kurzem waren die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Pogromnacht vor 80 Jahren noch in allen Medien und es wurde viel diskutiert über die Folgen. Journalist Tim Pröse hat seit über 25 Jahren Zeitzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus aufgespürt und begleitet. Vor drei Jahren entstand daraus sein Buch "Jahrhundertzeugen" mit sehr berührenden Geschichten über Menschen, die die Zeit von 1933 bis 1945 aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Keine leichte Kost, aber notwendig, fand er bei seiner Lesung in der Höchberger Bibliothek.
Büchereileiterin Martha Maucher war es gelungen, den Erfolgsautor zu verpflichten. Es wurde ein denkwürdiger Abend im Dachgeschoss der Bibliothek. Selten war nach dem Vorlesen einiger Passagen so eine Stille im Raum, wie bei dieser Lesung. Pröse verstand es, aus den Zeitzeugen viel Emotionen und viele ihrer lange gut gehüteten Erlebnisse zu entlocken. Teilweise begleitete er die letzten Zeitzeugen über viele Jahre, bis sie sich ihm endlich anvertrauten. So wie Berthold Beitz, der auf dem Cover des Buches zu sehen ist. Der große Mann des Krupp-Konzerns ("der unbekannte Schindler") hatte im Zweiten Weltkrieg viele jüdische Zwangsarbeiter vor dem sicheren Tod in der Gaskammer bewahrt, was aber nie bekannt wurde. Über 1500 Menschen verdanken ihm ihr Leben. Berührend die Schilderung von Pröse, als sich der letzte lebende Gerettete Jurek Rotenberg und Beitz nach 70 Jahren in Essen wiedersahen. Es war Beitz' letzter öffentlicher Auftritt und doch einer seiner wichtigsten, findet der Autor des Buches.
Oder die Geschichte von Kurt Keller, der als deutscher Landser 1944 die Invasion der Alliierten an Omaha Beach miterlebte und aus diesen Erlebnissen heraus desertierte, weil er erkannte, dass er dem falschen Herrn gedient hatte. Die Gewissensbisse des damals jungen Mannes und seine innere Zerrissenheit arbeitete Pröse sehr fein heraus. "Für ihn ist der längste Tag nie zu Ende gegangen."
Am eindringlichsten jedoch berichtete Tim Pröse von den studentischen Widerstandskämpfern Hans und Sophie Scholl, die 1943 hingerichtet wurden. Sophie Scholl habe ihn schon als Kind fasziniert, erzählte Pröse. Er hatte sogar ein Poster von ihr in seinem Jugendzimmer. Nach langer Suche, so Pröse, hatte er Scholls Schwester Inge gefunden, die das Erbe und die Erinnerung an ihre getöteten Geschwister bewahrt. Unzählige Briefe, Nachrichten hat sie gesammelt. Pröse las aus einem unveröffentlichten Brief von Inge Scholl über die Hinrichtung und den Tod der beiden Geschwister vor und man merkte die bleierne Schwere im Raum der Höchberger Bibliothek. Selbst Pröse kommen die Tränen, so eindringlich sind die Zeilen auch für ihn. Und das obwohl er sie schon so oft gelesen hat. Aber das höchste Gut, das Sophie Scholl kannte, war die Freiheit. Nicht umsonst ist dieses von ihr persönlich auf der Rückseite ihrer Anklageschrift geschriebene Wort zum Sinnbild des Widerstandes gegen Hitler-Deutschland geworden. "Spüren sie, dass Sophie Scholls Idee auch unsere Idee ist?"
Wir dürfen nicht vergessen, dass es solche "Helden" waren, "die dafür sorgten, dass es uns heute so gut geht", sagte Pröse zum Ende seiner Lösung. Sie seien die echten Vorbilder, an denen wir uns orientieren sollten und nicht wieder falschen Versprechungen nachlaufen wie vor 85 Jahren. Den Fehler sollte man kein zweites Mal machen. Seine "Jahrhundertzeugen" sind viel eher als Vorbilder für das Einstehen von Überzeugungen geeignet.