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WÜRZBURG
Entstehung, Zerstörung, Wiedergeburt
Geschichte: Dr. Jörg Lusin hat den Wiederaufbau des Spiegelkabinetts der Würzburger Residenz beschrieben.
Die Geschichte des Wiederaufbaus fast detektivisch recherchiert: Buchautor Dr. Jörg Lusin im Spiegelkabinett.
Foto: Herbert Kriener | Die Geschichte des Wiederaufbaus fast detektivisch recherchiert: Buchautor Dr. Jörg Lusin im Spiegelkabinett.
Herbert Kriener
Herbert Kriener
 |  aktualisiert: 17.10.2017 11:42 Uhr

Das Spiegelkabinett der Residenz Würzburg ist weltweit einzigartig. Es gibt nirgendwo einen vergleichbaren Raum dieser Art. Im Feuersturm des 16. März 1945 ging diese kunsthistorische Rarität verloren, wurde restlos zerstört. Der Wiederaufbau der Residenz schritt Zug um Zug voran, und mit der Einweihung des Grünlackierten Zimmers im Dezember 1974 waren auch die Prachträume der sogenannten Paradezimmer nahezu vollständig rekonstruiert. Das Spiegelkabinett aber war endgültig aufgegeben; es galt bei Fachleuten als absolut nicht mehr wiederherzustellen.

Wie dies dennoch gelang, gleichsam aus dem Nichts und gegen riesige Widerstände, das schildert jetzt anschaulich und spannend ein neues Buch des Würzburger Architekten und Bauhistorikers Dr. Jörg Lusin. Er hat sich in Würzburg bereits als streitbarer Vorsitzender des Verschönerungsvereins und als Autor einer Reihe von Büchern über das alte Würzburg einen Namen gemacht.

Mit der Rekonstruktion des Spiegelkabinetts kam Lusin schon Anfang der achtziger Jahre eher zufällig in Kontakt. Als Architekt der Handwerkskammer für Unterfranken nahm er an den Sitzungen des Bauausschusses teil, die damals als Präsident Franz Fuchs leitete. Dieser war nicht nur einer der wichtigsten Initiatoren und Motoren der Wiederherstellung des Spiegelkabinetts, sondern auch Auftragnehmer von Stuckarbeiten. Lusin erinnert sich noch gut an die erste Viertelstunde jeder Sitzung, die regelmäßig die neuesten, sensationellen Erfolge „seiner“ Stuckateure behandelte.

Drei Jahrzehnte später bat die Witwe von Wolfgang Lenz, ein Buch über das „neue“ Spiegelkabinett und seine Entstehung zu schreiben. Lenz hatte als Maler eine bedeutende Rolle bei der Wiedererstehung dieses Kunstschatzes gespielt. Während über das Historische, Untergegangene ausreichend zu lesen sei, gebe es über die Wiederherstellung des heutigen ja keinerlei Informationen, erklärt Lusin. In deren Beschaffung bestand die größte Schwierigkeit für den Bauhistoriker, und es bedurfte „streckenweise ausgeprägten detektivischen Spürsinns“. Denn es existiert kein Viertel mehr der damals beteiligten Firmen; und Mitarbeiter, die sich noch erinnern können, leben nur noch eine gute Handvoll.

Ein Beispiel für die Hartnäckigkeit bei der Spurensuche: Zum Glasgraveur führte nur ein dürftiges Schriftstück. Die Firma existierte nicht mehr, aufwendige Recherchen am ehemaligen Firmensitz Limburg blieben erfolglos. Nach Monaten der Hinweis, der Mann arbeite derzeit als Moderator bei einem Rundfunksender. Dort erinnerte man sich zwar vage, kenne den weiteren Berufsweg des Mitarbeiters aber nicht. Zähes Dranbleiben, nach vielen Misserfolgen eine frische Spur: der ehemalige Glasgraveur betreibe gerade ein Fitnessstudio für Damen an der Lahn. Lusin fand es, der frühere Kunsthandwerker wusste noch bestens Bescheid im alten Metier – und half ganz wesentlich.

Der Autor stellt in seinem Buch eingangs das Spiegelkabinett vor, beschreibt den Eindruck, den es auf den Besucher macht. Er schildert den gescheiterten Versuch, vor dem Luftangriff die bunten Glasscheiben auszubauen. Genau zwei Jahrhunderte nach seiner Fertigstellung 1745 wurde das Spiegelkabinett zerstört.

Eine weitere, selbst in Würzburg fast unbekannte Gefahr für die Residenz und die Wiederherstellung des Spiegelkabinetts deckte Lusin in seinem Buch detektivisch auf: der Einbau des Stadttheaters in die Residenz. Der Theaterbau sollte ursprünglich den gesamten Südflügel füllen, nur die Hofkirche und der westliche Innenhof wären vom Entwurf Balthasar Neumanns übrig geblieben. Dem damaligen bayerischen Finanzminister Friedrich Zietsch blieb es vorbehalten, die verheerende Planung der Stadtverwaltung zu Fall zu bringen, so Lusin.

Auf zwei glückliche Umstände reduziert der Autor die Ausgangssituation, die Basis der Rekonstruktion: Als „Vorbild“ eine bemalte, verspiegelte und goldradierte Scherbe, die beim erfolglosen Abbau der Glasscheibe entstanden war und außerhalb der ausgebrannten Residenz aufbewahrt worden war. Und der Künstler Wolfgang Lenz, der nach Meinung eines Kenners „die Technik der Hinterglasmalerei in so brillanter Weise beherrschte, wie seine artistischen Vorfahren des 18. Jahrhunderts“.

Das Spiegelkabinett ist das einzige Zimmer der Residenz, dessen Decke in das nächste Geschoss hineinragte. Beim Wiederaufbau war aber eine deckenbündige Betondecke eingezogen worden, die zur Gewinnung der alten Raumhöhe nun höhergelegt werden musste. Dies führte zu den ersten Schwierigkeiten, denn ein Professor des Universitätsinstituts als Mieter darüber wollte den damit verbundenen Unannehmlichkeiten partout nicht zustimmen. Nach langen, trickreichen Versuchen gelang es endlich, das ehemalige Muldengewölbe in den ursprünglichen Proportionen wiederherzustellen.

Die Grundlage der Rekonstruktion bildeten zwei Fotoserien, die noch wenige Wochen vor dem fürchterlichen Luftangriff aufgenommen wurden. Bekannt war bislang nur eine Folge von rund 40 Farbdias Carl Lambs. Die Malereien auf den verspiegelten Glasscheiben hielt dagegen ein bis dato nahezu unbekannter Münchner Fotograf in etwa ebenso vielen Schwarz-Weiß-Aufnahmen fest: Arthur Schlegel. Auch dies brachte Lusin erstmals ans Licht.

Die größten Probleme bereitete die Suche nach dem passenden Glas der Verspiegelung. Die Anforderungen waren hoch, und ein Glasmuster existierte ja in besagter Scherbe. Heute industriell hergestelltes Glas schied wegen seiner Kälte und Härte von vorne herein aus. Nach vielen erfolglosen Versuchen, insbesondere mit mundgeblasenem Glas aus Waldsassen, selbst mit russischem Glas, fand sich die unkonventionelle Lösung im „Brillenrohglas B 270 Minderqualität (!)“ der Firma Desag in Grünenplan. Dieses Glas war „leicht wellig, farbneutral und grünstichfrei“.

Das zweite Riesenproblem stellte die Verspiegelung der Glasscheiben dar. Die richtige Reihenfolge der Arbeitsgänge war endlich gefunden: Ausschneiden der Scheiben, Abkleben der zu bemalenden und vergoldenden Flächen, dann das Verspiegeln. Um mit Quecksilberamalgam wie früher zu verspiegeln, war man noch nicht soweit wie beim Grünen Gewölbe in Dresden 2004, eine behördliche Genehmigung dafür war nicht zu erwarten. Auch hier fand sich aber eine Lösung nach langen Versuchen im „Bedampfen im Hochvakuum mit einer Legierung aus Aluminium mit geringer Beimengung von Magnesium und Silizium“. In 30 Fahrten wurden die Glasscheiben dafür nach Schwäbisch Gmünd zur Firma Degussa gebracht.

Dann konnte der Vergolder ans Werk gehen, das Blattgold auflegen, dann die Goldgraveurin, die lange und ehrfurchtsvoll den Stil ihres Vorgängers, Wolfgang van der Auweras, studiert und geübt hatte: Bis aus einem flachen Goldornament „ein plastisch raffiniert bewegtes, bizarres, oft blättriges Gebilde mit Wölbungen und Windungen, Kehlen, Rippen, Schwüngen“ entstanden war. Danach war die Reihe an Wolfgang Lenz, nachdem er die Aufteilung der Scheiben auf den Wänden aufgezeichnet, die Malerei aus den Fotografien in diesem Maßstab rekonstruiert, und akribisch die Technik auf der Originalscherbe analysiert hatte. Eine immense Arbeit lag vor ihm, einem einzigen Maler – die des originalen Spiegelkabinetts im Barock waren mindestens zu dritt!

Im Spiegelkabinett waren in der Zwischenzeit die Stuckateure tätig geworden. Im Januar 1980 wurde das Spiegelkabinett eingerüstet, das Gesims und die Hohlkehle gezogen, der rekonstruierte Deckenstuck als Strichzeichnung aufgepaust. Diesbezügliche Versuche eines beauftragten Bildhauers schlugen fehl: „Es waren Abweichungen von bis zu einem Meter, wo Sachen ganz woanders platziert waren, als wo sie eigentlich hingehört hätten. Also war?s nix“, so ein Stuckateur im Originalton.

Und danach nahm die vierköpfige Mannschaft die Sache selbst in die Hand. Findige Köpfe, die auch das Problem der mangelhaften Haftung des auf den glatten Stuckmarmor der Gewölbedecke aufzutragenden Gipsstucks experimentell lösten: Sie verwendeten den „pappigen Ansetzbinder, mit dem man Gipsplatten klebt“! Einer von ehemals vier Stuckateuren lebt heute noch. „Große Könner, ursprünglich ,einfache' unterfränkische Handwerker, die sich an die Rekonstruktion eines Kunstwerkes des oberitalienischen Genies Antonio Bossis wagten, und die Probe bravourös bestanden“, sagt Lusin voller Respekt. Die gesamte Stuckdecke ist frei angetragen, nur wenige Wiederholungen bestehen aus Abgüssen.

Im März 1981 kam die erste Partie von Scheiben verspiegelt, vergoldet und fertig bemalt aus dem Atelier Lenz ins Spiegelkabinett. Früher waren die Glasscheiben direkt auf den Untergrund der Mauer gegipst, weshalb sie 1944 ja auch nicht demontiert werden konnten. Das löste man jetzt anders, befestigte sie auf notfalls wieder abnehmbaren Tischlerplatten.

Eine entspannende Scherzeinlage der konzentriert arbeitenden Kopisten, mit dem bloßen Auge kaum zu entdecken, allenfalls mit einem Fernglas: In die Allegorien der vier Erdteile bauten sie versteckt die Porträts von vier Personen ein, die für die Rekonstruktion der Stuckdecke verantwortlich zeichneten. Einen erweiterten Schabernack bildet die Karikatur des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten – „der beleibte Putto, der über dem Eckspiegel der nordöstlichen Kartusche steht, trägt die unverwechselbaren Gesichtszüge von Franz Josef Strauß.“ Wo immer es ging, wurden im Spiegelkabinett die ursprünglichen Techniken des Handwerks angewandt, originale Materialien verwendet. Die Vergoldung des Stucks bestand aus einer Prozedur von bis zu 15 Arbeitsschritten. Und auch für die Lüsterung, „die bunte Mischung spezieller Lasuren, die in verschiedenen, metallisch glänzenden Farben schillert, setzte man selbstverständlich keine industriell gefertigten Produkte ein, sondern ausschließlich Farbpigmente, Farbstoffe, Bindemittel, Spritlacke, Firnisse und ähnliches, welche auch die damaligen Fassmaler im Spiegelkabinett zu Hilfe nahmen.

Am 1. Oktober 1987 wurde das „neue“ Spiegelkabinett eingeweiht. 27 000 Stunden haben die Stuckateure für die Wiederherstellung gearbeitet, weitere 30 000 Stunden die Vergolder. Auf dem Pressefoto schüttelt Bayerns Finanzminister Max Streibl Wolfgang Lenz die Hand. Wie viele Stunden er an den rund 600 Glasscheiben gemalt hat, ist nicht bekannt. Lenz fand die Arbeit jedenfalls „aufregend und spannend“. Und so ist auch das Buch von Lusin.

Jörg Lusin: Das Spiegelkabinett der Residenz Würzburg – Entstehung, Zerstörung und Wiedergeburt; Echter Verlag GmbH, ISBN 978-3-429-03654-6.

 
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