
Wenn die Schule aus war und die Hausaufgaben gemacht waren, sind wir Rad gefahren, haben gespielt und das Lager unsicher gemacht“. Die 76-jährige Irma Zeckel hat angenehme Erinnerungen, wenn sie an das große Regierungs-Flüchtlingslager am Galgenberg zurückdenkt. Drei Jahre, von 1948 bis 1951, lebte sie hier mit Mutter und Großvater, einer Schwester und einem Bruder in einer Holzbaracke.
„Es war wie in einem Dorf“, sagt sie, „es schien uns ganz normal.“
Irma Zeckels vorheriges Leben und das von Schwester, Bruder, Mutter und Großvater war alles andere als normal gewesen. Ihr Vater starb 1946 in einem tschechischen Lager, der Großvater hatte die Familie schwarz über die Grenze gebracht. Als Irma im Lager am Galgenberg ankam, war sie acht Jahre alt und hatte Schlimmes erlebt.
Auch im weitgehend zerstörten Würzburg lief 1948 eigentlich nichts normal ab; in der Innenstadt hatte der Wiederaufbau kaum begonnen und in den Außenbezirken kam der Neubau dringend benötigter Wohnungen nur schleppend in Gang. Zudem hatten die amerikanischen Besatzer Hunderte von stehengebliebenen Häusern für Offiziersfamilien beschlagnahmt.
Auch im Lager am Galgenberg, da, wo sich heute der Uni-Campus Hubland Nord auf dem Gelände der ehemaligen Leighton Barracks erstreckt, waren die Lebensbedingungen alles andere als ideal. Die 1931 geborene Irene Kamm berichtete von „vier bis fünf Familien in einem Raum“ und von einem beengten Leben zwischen Stockbetten.
„Von einem Bett zum anderen war ein Brett befestigt, wo unser Essgeschirr Platz fand“, schrieb sie 1998. „Für Kisten und Koffer war kein Platz, die waren in einer anderen Baracke und wir durften uns wöchentlich eine Stunde die fehlenden Sachen holen.“
Aber die Menschen, die wie Irma Zeckel und Irene Kamm meist aus dem nun zur Tschechoslowakei gehörenden Sudetenland stammten, hatten zumindest die Strapazen von Flucht oder Vertreibung und den nervenaufreibenden Aufenthalt in Durchgangslagern wie Mellrichstadt hinter sich. Am Galgenberg konnten sie erstmals zur Ruhe kommen und an den Aufbau einer neuen Existenz denken.
Die kleine Barackensiedlung hoch über der zerstörten Stadt wurde so, trotz der mehr als bescheidenen Lebensumstände, auch zu einem Symbol für aufkeimende Hoffnung.
Nach dem Krieg hatte die Regierung von Unterfranken in Würzburg zunächst ein großes Flüchtlingslager in der Winterhäuser Straße eröffnet. Angesichts des ungebremsten Zustroms von Vertriebenen beschlossen die Beamten, ein weiteres Lager, ebenfalls außerhalb der zur Trümmerwüste gewordenen Innenstadt, zu errichten. Ihr Blick fiel auf das Hubland.
Hier hatte sich 1945 ein von den Amerikanern betriebenes Gefangenenlager für deutsche Soldaten befunden, das 1947 nicht mehr belegt war. In einigen der zahlreichen Baracken lebten allerdings noch straffällig gewordene „Displaced persons“, Menschen, die von den Nazis aus ihrer osteuropäischen Heimat zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren.
Im Januar 1948 brachten die Amerikaner die Häftlinge in das Gefängnis nach Fürth und nun standen plötzlich auch die letzten Baracken leer. Obwohl es sich um für die Tropen bestimmte leichte Holzhäuser ohne Isolierung und Fundamente handelte, erweckten sie Begehrlichkeiten.
Im Bayerischen Staatsministerium für Sonderaufgaben, das mit der Aufarbeitung der NS-Diktatur beauftragt war, überlegte man, am Galgenberg ein Gefangenenlager für 1500 verurteilte Nazis zu errichten. Die Würzburger Stadtverwaltung konnte diesem Plan nichts abgewinnen und sah vielmehr die Chance, hier eine vorstädtische „Wohnsiedlung mit Gartenanteil“ zu errichten.
Allerdings hätte es 750 000 Reichsmark gekostet, um die Baracken in einen dauerhaft bewohnbaren Zustand zu versetzen. Im Stadtrat regte sich Ende Januar 1948 daher Kritik an dieser Investition; eine solch hohe Summe solle besser in den Bau fester Häuser investiert werden.
Kritik äußerte auch der Architekt Paul-Heinrich Otte, der wenig später Chef des Würzburger Stadtplanungsamtes wurde. Die Baracken stünden „auf der Kuppe des Galgenbergs“, gab er zu bedenken und seien dem Wind schutzlos ausgesetzt. Da es keine Busverbindung in die Stadt gab, sei außerdem „ein sehr weiter Weg für die dort wohnenden Familien zur Stadt und zur Arbeitsstätte zu beachten.“
Der Flüchtlingskommissar der Regierung von Unterfranken brachte als dritte Variante Anfang Februar 1948 ein Lager für Tausende Vertriebene ins Gespräch. Oberbürgermeister Hans Löffler, der aufgrund seines Amtes zunächst an die Bürger seiner Stadt dachte, von denen viele in Kellern unter Ruinen hausten, erhob scharfen Protest und machte, wie er notierte, „die Priorität der Stadt geltend, die nicht Neuzuzug, sondern Entlastung in der Wohnungsnot brauche“.
Löffler argumentierte, dass jede Besiedlung des Hublands, sogar die von ihm ins Auge gefasste Wohnsiedlung, in einer Zeit eklatanten Nahrungsmangels problematisch sei. Der Grund: Die Gerbrunner Bauern besaßen am Hubland zahlreiche Obstbäume, die vor Felddiebstählen dann nicht mehr sicher seien. Ein Flüchtlingslager stelle für die Obstbauern geradezu „ein wirtschaftliches Todesurteil“ dar, schrieb Löffler.
In dieser ungeklärten Situation erhoben zahlreiche Institutionen und Privatleute Anspruch auf die Baracken: Stadtschulrat Gustav Walle drang auf den Ankauf von vier Holzhäusern zur Einrichtung von Notschulen. Heinz Kilian, der Kreisbeauftragte der Ausgebombten und Evakuierten, verlangte am 11. März 1948 in einem scharfen Brief an den Stadtrat die Baracken für die Rückführung von Evakuierten. Es sei „eine Schande und Blamage für die Stadt Würzburg ihren Außenbürgern gegenüber, dass diese Baracken heute noch unbewohnt sind.“ Täglich bedrängten ihn Menschen, „irgendwie einen Weg zu finden, welcher sie am schnellsten wieder nach Würzburg bringt.“
Baracken beanspruchten auch ein chemisch-pharmazeutischer Betrieb, die „Großküche des Wiederaufbaus der Stadt Würzburg“, die Bauarbeiter verköstigte, ein Nordheimer Seidenraupenzüchter und ein Stoffhändler. Der Pfarrer von St. Gertraud wollte eines der Holzhäuser als Notkirche verwenden und der Kulturverband Mainfranken bat mit dem handschriftlichen Zusatz „Eile tut Not“ um einer Baracke, um darin wohnungslose Theatermitarbeiter unterzubringen.
Die Regierung von Unterfranken hatte indes andere Pläne. Am 20. April 1948 fand eine Besprechung auf dem Galgenberg statt, bei der verkündet wurde, dass etwa 40 Baracken dem Staatssekretariat für das Flüchtlingswesen übergeben worden seien.
Man wolle ein Flüchtlingslager für 2000 Personen einrichten, versprach jedoch die Wünsche der Stadt insofern zu berücksichtigen, dass dort vor allem arbeitsfähige Männer unterkommen sollten, die einen Beitrag zum Wiederaufbau der Stadt leisten könnten.
Damit war bereits eine weitere Perspektive angedeutet: Man plante ein permanentes Lager. In einem Gesprächsprotokoll stand: „Das Lager solle möglichst nicht Durchgangslager, sondern Dauerlager werden, so dass die in ihm Untergebrachten ein Interesse daran haben werden, in feste Arbeitsverhältnisse zu kommen, wodurch auch eine gute Lagerdisziplin gewährleistet werde.“
Am 11. Mai 1948 berichtete die Main-Post aus der Stadtratssitzung des Vortags, in der die geplante Nutzung als Regierungs-Flüchtlingslager bekannt gegeben worden war. Oberbürgermeister Hans Löffler musste sich in der Sitzung gegen Vorwürfe verteidigen, die Stadt habe eine Gelegenheit verpasst, Wohngelegenheiten für ihre Bürger zu schaffen. Dies sei wegen des hohen Kostenaufwandes allerdings gar nicht in Frage gekommen, entgegnete er kühl.
Am 12. Juni 1948 wurde das Regierungs-Flüchtlingslager Galgenberg offiziell eröffnet. Bald wohnten 1100 Menschen in den Baracken, und zwar überwiegend ganze Familien. Versorgt wurden sie aus einer Gemeinschaftsküche; die Kinder erhielten Unterricht in einer Schulbaracke, die an Sonn- und Feiertagen für Gottesdienste genutzt wurde. Bald wurde ein Kindergarten eröffnet und ein Fußballfeld angelegt.
Musisch begabte Bewohner schlossen sich zu einem Chor und einem Orchester zusammen; Männer spielten in der Verbandsliga Fußball und für Buben und Mädchen gab es Jugendgruppen. Das Lager hatte sich in wenigen Monaten zu einem kleinen Stadtteil entwickelt.
Noch war es warm, aber eine vordringliche Aufgabe konnte nicht mehr lange hinausgeschoben werden: Die nicht isolierten Holzbaracken mussten winterfest gemacht werden.
Ein Kapitel über das Flüchtlingslager am Galgenberg findet sich in Roland Flades Buch „Würzburgs neuer Stadtteil Hubland. Seine Geschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“, das 2014 als Veröffentlichung des Stadtarchivs erschienen ist. Das Vertriebenenlager wird auch in der Ausstellung zur Geschichte des Hublands während der Landesgartenschau 2018 eine Rolle spielen.