Für die ARD war der Film ein „Highlight des Jahres“, rund 6,9 Millionen Menschen verfolgten am Montagabend „Terror – Ihr Urteil“. Das TV-Spiel mit Martina Gedeck als Staatsanwältin und Florian David Fitz als angeklagter Bundeswehr-Pilot entstand auf der Basis eines Stücks des Autors Ferdinand von Schirach, das bereits mehr als 400-mal im Theater aufgeführt worden ist.
Inhalt ist die fiktive Geschichte um ein von Terroristen entführtes Flugzeug mit 164 Passagieren, das in ein Fußballstadion mit 70 000 Zuschauern gelenkt werden soll. Der Pilot entschließt sich dazu, das Flugzeug abzuschießen – und die Zuschauer fällen ihr Urteil: Schuldig oder nicht schuldig. Professor Eric Hilgendorf (55) ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Würzburg, und er kennt und schätzt das Buch von Schirach. Die öffentliche Diskussion nach dem Film hat er ebenfalls verfolgt. Ein Gespräch über Moral, Schuld und die Urteilsfähigkeit des Volkes.
Eric Hilgendorf: Den Theoretiker freut es, wenn diese Grundlagenfragen in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Der Film hat deutlich gemacht, dass diese Fragen durchaus auch praktisch relevant sein können. Das Luftsicherheitsgesetz von 2005 ist ein reales Gesetz und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein Jahr später, §14, Absatz 3 zu kippen, der unter bestimmten Umständen einen Abschuss zugelassen hätte, ist auch eine reale Entscheidung. Für problematisch halte ich indes, dass nun Interna der Luftabwehr in der Öffentlichkeit breitgetreten werden, etwa die Tatsache, dass nun offenbar davon ausgegangen werden kann, dass entführte Maschinen abgeschossen werden.
Hilgendorf: Nein, das Risiko wird vermindert, weil Straftäter abgeschreckt werden. Potentielle Entführer wissen nun, dass das Flugzeug abgeschossen wird. Wenn die Entführer davon ausgehen könnten, dass sie nicht angegriffen werden, könnte das Terroristen motivieren.
Hilgendorf: Das Grundgesetz sagt dazu direkt nichts aus. Aber man kann Artikel 1, den Paragrafen über die Unantastbarkeit der Menschenwürde, so interpretieren, dass eine Verrechnung von Menschenleben immer rechtswidrig ist. Ich halte diese Ansicht für richtig. Das Argument, man dürfte 164 Menschen töten, um 70 000 in einem Fußballstadion zu retten, zieht nicht. Es würde ein rechtswidriger Vorgang bleiben.
Hilgendorf: Wir leben in einer Demokratie, und natürlich darf das Volk entscheiden. Das Volk bestimmt ja über den Umweg des Parlaments die Gesetze, nach denen die Gerichte dann entscheiden. Deshalb kann ich dieses Argument nicht nachvollziehen. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist gut, dass das Volk entscheidet. Ich glaube, dass das Rechtsgefühl der Bevölkerung im aktuellen Fall auch gar nicht so falsch war. Es wäre auch nach geltender Rechtslage so, dass dieser Pilot höchstwahrscheinlich freigesprochen werden würde. Der Abschuss ist rechtswidrig, aber er ist entschuldigt.
Hilgendorf: Grundsätzlich ist es gut, Dinge klar zu stellen und zu regeln. Aber in diesem Fall sollte man eine Abschussgenehmigung nicht regeln, weil das gegen den Gedanken verstößt, dass der Mensch der Höchstwert unserer Verfassung ist. Wenn er das ist, dann darf eine Verrechnung von Menschenleben nicht stattfinden. Man darf aber in solch einem Einzelfall darauf hoffen, dass jemand mutig genug ist, gegen das Recht zu verstoßen.
Wir erwarten hier von dem Piloten, dass er möglicherweise moralisch einwandfrei, aber doch rechtswidrig handelt. Er muss dann auch die Folgen tragen: Er wird zum Beispiel seinen Beruf verlieren und möglicherweise gering bestraft werden. Der Vorwurf, den eine Gesellschaft solch einem Menschen machen kann, ist sehr schwach, weil moralisch gesehen seine Tat vertretbar ist.
Hilgendorf: Ja, und ich selber würde mich auch zu diesen 86 Prozent rechnen, die sagen: Freispruch. Als Jurist würde ich es genauer formulieren: Der Täter hat den Tatbestand erfüllt, und er hat auch rechtswidrig gehandelt. Aber wir können ihm keinen persönlichen Schuldvorwurf machen, deswegen muss er freigesprochen werden.
Hilgendorf: Ich bin vor allem froh, dass ich nicht als Pilot eine solche Entscheidung zu treffen habe. Ich stelle mir das fürchterlich vor, aber Menschen beim Militär werden ausgebildet, um auch mit solchen Extremsituationen zu recht zu kommen. Auch für Richter ist es eine schwierige Entscheidung, aber es gab in der Vergangenheit schon Urteile, die in diese Richtung gingen.
Denken Sie etwa an die Diskussion im Fall des Kindesmörders Magnus Gäfgen. Damals hat der Vizepolizeichef von Frankfurt dem Täter Folter angedroht, damit der ihm den Aufenthaltsort des entführten Kindes nennt. Im Prozess vor dem Landgericht Frankfurt wurde meines Erachtens zurecht geurteilt, dass die Tat des Polizisten rechtswidrig ist, aber die Strafe gering ausfallen muss, weil wir ihn aus moralischen Gründen verstehen können.
Hilgendorf: Er ist das Argument hinter meinen Ausführungen bisher. Es gibt gesetzlich verbrieft im Strafrecht zwei verschiedene Notstandsregelungen, den rechtfertigenden und den entschuldigenden Notstand. Der rechtfertigende Notstand liegt vor, wenn man eine Sache zerstört, um einen Menschen zu retten. Wenn es Leben gegen Leben steht, kann eine solche Rechtfertigung nicht greifen. Der Täter kann in diesem Fall entschuldigt sein, wenn er handelt, um sich oder etwa einen Familienangehörigen zu retten. Der übergesetzliche Notstand entschuldigt nur in Fällen, in denen gehandelt wird, um anderen, fremden Menschen zu helfen.
Hilgendorf: Es gibt dazu eine Leitrechtsprechung, die von den sogenannten Geisteskrankenmorden im Dritten Reich herrührt. Damals kamen die Nazis auf die Idee, die Insassen von psychiatrischen Anstalten umzubringen. Es wurden sehr viele Anstaltsleitungen angeschrieben und aufgefordert, die Schwerkranken zu benennen. Jeder wusste, die werden dann abtransportiert und umgebracht. Viele Anstaltsleiter haben nachgegeben, andere jedoch haben nur einen Teil der Menschen geopfert, vielleicht 50 benannt, um 500 andere zu retten. Diese Fälle kamen nach dem Krieg vor deutsche Gerichte. Dort wurde gesagt, dass man das Verhalten moralisch nachvollziehen kann, es aber nicht zu rechtfertigen ist. Das Opfern unschuldiger Menschen ist rechtswidrig.
Hilgendorf: Sie erhielten keine Strafe. Man darf Menschenleben nicht verrechnen, aber die Angeklagten waren entschuldigt. Es war ein übergesetzlicher Notstand.
Hilgendorf: Ich finde das ein gelungenes Format, wünsche mir aber auch, dass kompetent darüber gesprochen wird. Da hat die Presse eine große Verantwortung, die Dinge klar und differenziert darzustellen. Das Thema ist zu wichtig für Schnellschüsse. Ich selbst bin gerade in Berlin, wo wir im Verkehrsministerium über die sogenannten Dilemma-Programme bei selbstfahrenden Autos diskutieren. Was macht solch ein Fahrzeug, das in eine Kollision gerät und der Computer entscheiden muss: Ein Toter oder drei Tote? Das ist genau dasselbe Problem, nur in einem neuen Gewand.
Zunächst muß ja erst mal jemandem auffallen, daß da etwas nicht stimmt. Dan muß man mal drauf kommen, was überhaupt los ist. Dann starten die Flugzeuge "innerhalb von 15 Minuten" und brauchen bis zu 30 Minuten bis sie vor Ort sind. Bei schlechtem Wetter anscheinend auch schon mal länger.
Bis dahin dürfte das Flugzeug doch schon lange abgestürzt worden sein.
Da ist wirklich was dran! Unbedingt lesenswert!
Auch stellt sich m. E. nicht die Frage "entweder - oder" - denn die Flugzeuginsassen werden sterben, egal wo (und warum) es auf dem Boden aufprallt. Es kann (und wird) also tatsächlich "nur" darum gehen, die Zahl der Todesopfer zu minimieren.
Darüber hinaus werden andere Terroristen eher von weiteren derartigen Taten absehen, wenn sie damit rechnen müssen, ihr "großes Ziel" mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erreichen.
Trotzdem kann der Abschuss eines Verkehrsflugzeuges nicht gesetzlich festgeschrieben (und einem Menschen "befohlen") werden - das würde mMn zumindest an "Gesetzesmissbrauch" grenzen. Den Begriff "übergesetzlicher Notstand" gibt es nicht umsonst.
So ist der Pilot zwar "schuldig" im Sinne des Gesetzes - hat aber eine begründbare "lebensrettende" Einzelfallentscheidung getroffen, für die er straffrei ausgehen darf.
Sein Gewissen steht auf einem anderen Blatt...
Nach deren Logik dürften wir ja auch keine Organtransplantation mehr vornehmen, weil wir ja mit dem selben Kostenaufwand Tausende vor dem Hungertod retten könnten.
Schuldig, aber eine geringe oder keine Strafe wäre vernünftig gewesen. Diese, obwohl realistische Option wurde aber nicht angeboten.
Da Fußball einen hohen Stellenwert hat, und Vielflieger etwas abgehoben wirken, kommt es der Bevölkerung vielleicht in den Sinn, die Flugzeuginsassen opfern zu wollen. Richard David Precht geht auf diese Problematik in seinem Standardwerk "Wer bin ich?" auf die moralisch-psychologische Seite dieser Fragestellung ein.
Es ist interessant zu erfahren, wie sehr sich das bürgerliche Bewusstsein im Zeitalter
von Facebook und Massenmedien wandelt. Die Masse darf auf keinen Fall verklärt oder gar vergöttlicht werden, denn sie lebt von der Existenz ihrer Individuen.
Also kein Freispruch.