Die Recherchen über die Sinti-Familie Winterstein haben mich einer fremden Welt näher gebracht. Denn ich bin ich ohne persönlichen Kontakte zu Sinti aufgewachsen, von denen ich als Kind lediglich wusste, dass sie gelegentlich am Rand meiner Heimatstadt Aschaffenburg campierten.
Als 16-Jähriger war ich wie viele andere von Alexandras Schlager „Zigeunerjunge“ beeindruckt, und eine der ersten Schallplatten, die ich mir kaufte, stammte von der amerikanischen Popgruppe „The Mamas & the Papas“, die im Song „Dancing Bear“ einen „Zigeuner“ zur Verkörperung des erträumten Ausbruchs aus engen bürgerlichen Konventionen machten. Von der Wirklichkeit des „Zigeunerlebens“ hatte ich natürlich ebenso wenig Ahnung wie die Protagonisten der Lieder.
Von Theresia Winterstein hörte ich erstmals 1983, als Paul Pagel auf ihr Schicksal und das von Mitgliedern ihrer Familie aufmerksam machte. Der von ihm und drei Lehrerkollegen verfasste Begleitband zur Ausstellung „Würzburg im Dritten Reich“ ist seither zu einem Standardwerk für alle geworden, die sich mit der Geschichte Würzburgs im 20. Jahrhundert beschäftigen.
1987 gab Angelika Ebbinghaus ein Buch über Opfer und Täterinnen im Nationalsozialismus heraus, in dem ein ausführliches Interview wiedergegeben ist, das Heidrun Kaupen-Haas und Gisela Bock mit Theresia Winterstein geführt hatten. Ich habe damals in der MAIN-POST über das Buch geschrieben und mit Theresia Winterstein korrespondiert, und es berührte mich, als ich nach ihrem Tod im Jahr 2007 erfuhr, dass sie meine Briefe aufbewahrt hatte.
Theresia Winterstein ist eine Ausnahme-Persönlichkeit. Sie holte ihre Tochter Rita gegen Widerstände aus der Klinik, um sie vor weiteren Experimenten zu bewahren und bewies auch nach dem Dritten Reich, in dem zahlreiche Mitglieder ihrer Familie ermordet wurden, Mut und Durchsetzungskraft.
Die Frau, die später den Nachnamen ihres zweiten Mannes Emanuel Seible annahm und lange in Rottenbauer und der Zellerau lebte, kämpfte für die Anerkennung des den Sinti zugefügten Unrechts. Sie gründete eine internationale Sinti-Frauenorganisation, intervenierte bei Politikern und Behörden und wurde zur anerkannten Repräsentantin ihrer Leidensgenossen. Als sie krankheitsbedingt ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte, trat die Tochter Rita Prigmore in ihre Fußstapfen.