Sieben Jahre lang diskutierten die beiden Wissenschaftler als Wirtschaftsweise kontroverse Positionen im Sachverständigenrat der Bundesregierung. Prof. Peter Bofinger (63), seit 2004 auf Empfehlung der Gewerkschaften in dem Gremium, ist mittlerweile dienstältestes Mitglied und steht für eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, Prof. Wolfgang Wiegard (72) – Wirtschaftsweiser 2001 bis 2011 – gilt als Vertreter der Angebotsorientierung. Zur Jahreswende 2005 sorgten die beiden für Schlagzeilen, weil sie sich öffentlich über steuerpolitische Kompetenzen zofften. In den Jahren danach entwickelte sich eine Freundschaft zwischen beiden Professoren. Ein Gespräch über den ausgehandelten Koalitionsvertrag, die wirtschaftliche Lage und den Immobilienmarkt.
Frage: Herr Wiegard, Herr Bofinger, die Wirtschaft wächst, die Konjunktur läuft auf Hochtouren, der Arbeitsmarkt brummt – klingt nach Schlaraffenland. Gibt es überhaupt noch Gefahren?
Wolfgang Wiegard: Natürlich. Wenn Trump seine Pläne zur Handelspolitik mit 45-Prozent-Zöllen umsetzt, landen wir in einem Handelskrieg, der eine exportorientierte Nation wie Deutschland treffen würde. Es kann auch Turbulenzen im Bankenwesen kommen, wenn der Ausstieg aus der Niedrigzinsphase zu schnell erfolgt. Also von einem Schlaraffenland würde ich nicht reden.
Wirtschaftspolitisch konnten Sie beide sich früher trefflich streiten. Haben Sie noch Differenzen?
Peter Bofinger: Wie stark der Beitrag der Agenda 2010 für den Arbeitsmarkterfolg war – das sehen wir schon unterschiedlich...
Wiegard: ... ja stimmt. Da findet der gute Peter Bofinger, dass der Beitrag gering war. Ich dagegen glaube, dass es die zentrale Reform der letzten 20 bis 30 Jahre in Deutschland war. Ein nicht unwesentlicher Teil des Rückgangs in der strukturellen Arbeitslosigkeit ist auf die Agenda 2010 zurückzuführen.
Bofinger: Ach, da kann man ganz verschiedene Studien dazu zitieren. Wenn tatsächlich die Absenkung des Anspruchs fürs Langzeitarbeitslose die Vollbeschäftigung bringen sollte, dann müsste in Italien oder Griechenland die Wirtschaft brummen. Denn dort gibt's nach einem Jahr Arbeitslosigkeit gar nichts.
Und mit Blick voraus: Wie sehen Sie beide als langjährige Wirtschaftsweise den aktuell verhandelten Koalitionsvertrag?
Wiegard: Also ein großer Wurf ist das nicht. Nehmen Sie die Steuerpolitik. Die Abgeltungssteuer auf Zinserträge soll abgeschafft werden...
Bofinger:... was ich gut finde, weil ich schon immer dafür geworben habe.
Wiegard: Fatal wäre allerdings gewesen, die Abgeltungssteuer auch auf Dividenden abzuschaffen. Und das Zweite ist der Soli, für den eine unglaublich komplizierte Lösung gefunden wurde...
Bofinger: Zustimmung! Den Soli abschaffen zu wollen, aber nur für Einkommen unter einer Freigrenze – das ist Unsinn und grobschlächtig. Man hätte aus meiner Sicht einfach einen neuen maßgeschneiderten Steuertarif einführen müssen...
Wiegard: ... den man in den Einkommenssteuertarif hätte integrieren können. Der Spitzensteuersatz von 45 Prozent beginnt heute beim 1,3- bis 1,5-Fachen des Durchschnittsverdienstes, was auch unsinnig ist. Hier hätte man viel mehr machen können.
Die SPD wollte den Spitzensteuersatz eigentlich anheben...
Wiegard: Da wäre ich skeptisch, weil es die Personenunternehmen trifft. Wenn man große Einkommen oder Vermögen belasten will, ist mein Favorit die Erbschaftssteuer. Und die aktuelle Erbschaftssteuerreform ist aus meiner Sicht Murks. Da hätte man ein besseres Modell finden können. Größere Vermögen sind überwiegend Betriebsvermögen. Und die lassen sich durch geschickte Gestaltung von der Erbschaftssteuer ausnehmen, was ich nicht für sinnvoll halte. Beim Spitzensteuersatz wäre ich vorsichtig. 45 Prozent sind auch im internationalen Vergleich hoch genug.
Bofinger: Nun ja... Gegen eine moderate Anhebung spricht aus meiner Sicht nichts. Für Leute, die wirklich gut verdienen, ist die Steuerbelastung die geringste, die es in der Geschichte der Bundesrepublik je gab. Ich hätte kein Problem mit einem Spitzensteuersatz bis 50 Prozent, der dann aber nicht bei einem Jahreseinkommen von 52 000 Euro ansetzt.
Wird für die unteren Einkommensbereiche genug getan?
Wiegard: Einkommenssteuer zahlen die unteren Bereiche nicht, das betrifft fast 50 Prozent der Haushalte in Deutschland, darunter viele Rentner und Studenten. Wo nötig, greift das Transfersystem. Ob das genug ist, darüber lässt sich streiten. Natürlich könnte man die Hartz-IV-Leistungen erhöhen. Aber das muss finanziert und entsprechend abgewogen werden.
Bofinger: Die Wiedereinführung der Parität bei der gesetzlichen Krankenversicherung – also Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen jeweils die Hälfte – hilft Leuten mit einem niedrigen Einkommen, dazu die Senkung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, das Kindergeld wird erhöht... also hier findet Entlastung auch für Geringverdiener statt.
Nun geht es Deutschland gesamtwirtschaftlich gut, die soziale Schere scheint sich aber weiter zu öffnen oder zumindest nicht zu schließen. Wie kann denn Wirtschaftspolitik hier gegensteuern?
Bofinger: Der Mindestlohn war schon mal ein guter Ansatz und wichtig, einen Boden nach unten einzuziehen. Ich sehe auch Spielraum, den Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro stärker zu erhöhen als die Tariflöhne. So könnten breitere Schichten von der guten Wirtschaftslage profitieren...
...sagt der Vertreter einer nachfrage-orientierten Wirtschaftspolitik. Stimmt der Angebotstheoretiker zu?
Wiegard: Ach... Es gibt keinen Ökonomen, der ausschließlich auf die Nachfrage oder das Angebot schaut. Richtig ist beim Mindestlohn: Die Befürchtung einiger Ökonomen, bis zu 900.000 Arbeitsplätze könnten verloren gehen, ist nicht eingetreten. Wenn man aber an die unteren Einkommensbereiche und an die Langzeitarbeitslosen heran will – dann kann das nur über eine verstärkte Bildungspolitik im Bereich der Niedrig-Qualifikation laufen.
Wieweit ist der Fachkräftemangel ein Thema im Sachverständigenrat?
Bofinger: Diskutiert wird darüber seit langem – aber das politische Handeln ist eine andere Sache. Seit Jahren können wir sehen, dass unsere Bildungsausgaben im internationalen Vergleich der OECD-Länder zu niedrig sind. Dann darf man sich nicht wundern, wenn man die Rechnung bekommt und nicht genug qualifizierte Menschen da sind.
Wiegard: Und für Bildung muss man eben Geld in die Hand nehmen. Aufgabe von Ökonomen ist es, mögliche Finanzierungen aufzuzeigen: durch weniger Ausgaben an anderer Stelle, durch höhere Steuern oder durch Kreditaufnahmen.
Bofinger: Wenn es an Geld für Bildung fehlt, würde ich auch eine Verschuldung akzeptieren. Denn das kommt auf jeden Fall den künftigen Generationen zugute. Keine optimale Bildung zu ermöglichen, nur um auf Schulden zu verzichten – das halte ich für falsch.
Herr Wiegard, Sie waren einige Jahre auch im „Rat der Immobilienweisen“. Wenn Sie sich die Preisentwicklung in Ballungsräumen anschauen: Haben Sie Angst vor einer Immobilienblase?
Wiegard: Ich glaube nicht, dass es bei uns eine Immobilienblase gibt wie in Spanien, Irland oder in den USA. Dass Immobilien in Städten wie München oder Hamburg überbewertet sind – das glaube ich schon. Die Bundesbank spricht von Überbewertungen von 15 bis 30 Prozent. Aber selbst, wenn diese einmal abgebaut werden, sind das noch tragbare Verluste, die nicht auf den Bankensektor übergreifen dürften.
Sollte die Politik hier mit Blick auf die Ballungsräume reagieren?
Bofinger: Dafür sehe ich im Moment keine Notwendigkeit. Die Gefahren für das Bankensystem sind bei einer relativ schwachen Kreditvergabe begrenzt. Wir haben eine hohe Eigenkapitalquote und keine riesige Angebotsausweitung wie in Spanien oder Irland. Die Gefahr bei einer Immobilienblase ist ja, dass über Jahre hinweg viel gebaut wird, der Markt gesättigt ist und die Mieter fehlen. Das war in Spanien und in den USA das Problem. China zeigt hier auch bedenkliche Entwicklungen. In Deutschland aber ist die Bautätigkeit bei weitem nicht so hoch.
Nochmal ein Blick auf den Koalitionsvertrag: Fühlt sich der Sachverständigenrat mit seinen Empfehlungen darin wieder?
Bofinger: Deutschland ist aus meiner Sicht pumperlgesund. Deshalb braucht man keine Radikaloperationen, -reformen oder große Weichenstellungen. Deshalb ist es nicht so schlimm, wenn dieser Koalitionsvertrag nicht die großen Würfe bringt. Für mich ist die europäische Dimension wichtig – die ist klar und deutlich niedergeschrieben. Nur gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern werden wir in der Lage sein, unseren Wohlstand und unser Gesellschaftsmodell auf Dauer gegenüber China und den USA zu behaupten.
Und wie stimmt das SPD-Mitglied Wolfgang Wiegard ab...?
Wiegard: Ja, ich unterstütze eine Große Koalition und werde auch in meinem Ortsverein um Zustimmung werben. Ich würde es für fatal halten, wenn sich ein Mitgliedervotum gegen den Koalitionsvertrag und gegen eine Große Koalition aussprechen würde.
Fatal für die SPD oder für das Land?
Wiegard: Für beides.
Kollege Bofinger darf nicht abstimmen...
Bofinger: Ich bin kein Mitglied, würde aber zustimmen. Ich glaube, dass auch die SPD die Chance hat, sich als Partei in einer solchen Regierung mit neuen Ideen und neuen Köpfen zu profilieren. Da gibt es reichlich soziale Herausforderungen in Europa, die ein Markenkern der SPD werden könnten.
Wiegard: Und eine Politik der kleinen Schritte ist in unsicheren Zeiten nicht die schlechteste.
Zur Person: Peter Bofinger und Wolfgang Wiegard
Peter Bofinger hat an der Universität Würzburg seit 1991 den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Geld und internationale Wirtschaftsbeziehungen inne. Der 1954 in Pforzheim geborene Bofinger hat an der Universität Saarbrücken Volkswirtschaft studiert, darin promoviert und sich 1990 habilitiert. Bereits von 1978 bis 1981 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ("Die Wirtschaftsweisen") tätig. 2004 wurde er auf Empfehlung der Gewerkschaften eines von fünf Mitgliedern. Bei Vollendung seiner dritten Amtszeit im Februar 2019 wäre er der am längsten amtierende Wirtschaftsweise in der Geschichte des Sachverständigenrats.
Im vergangenen Jahr wurde Bofinger in die internationale Kommission zur Umgestaltung der Weltwirtschaft (CGET) berufen.
Der 1946 in Berlin geborene Wolfgang Wiegard hat an der Universität Heidelberg Volkswirtschaft studiert, darin promoviert und sich 1981 habilitiert. Von 1985 bis 1994 und von 1999 bis zu seiner Emeritierung 2011 hatte er Lehrstühle für Volkswirtschaftslehre an der Universität Regensburg inne. Von 1994 bis 1999 war er einem Ruf an die Universität Tübingen gefolgt. Von 2001 bis 2011 war er Mitglied im Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen – von April 2002 bis Februar 2005 als Vorsitzender. Von Oktober 2009 bis Mai 2012 war Wiegard auch Mitglied im Rat der Immobilienweisen. (aj)
Auch wegen ihrer herausragenden Expertisen ist Deutschland eine Spitzennation!