Das erste Leben des Martin P. dauerte 25 unbeschwerte Jahre. In der Schule schrieb er gute Noten, seine Ausbildung schloss er als Kammersieger ab, im Beruf war er tüchtig, konnte sich eine Wohnung leisten, ein Auto, ein Motorrad.
"Opfer zählen bei
uns nicht"
Martin P.
Martin P. war Ringer, kämpfte in der bayerischen Oberliga. Sein letzter Kampf fand am 23. Juli 2000 in Bamberg statt. Es war ein Freundschaftskampf. Martin P.'s Mannschaft gewann, den Sieg wollte man in einer Bamberger Disco feiern.
Es ist frühmorgens, als die Sportler dort ankommen. Vor der Tür wartet schon eine andere Gruppe. "15 bis 20 Typen", sagt Martin P., "und sie suchten Streit". Der Türsteher winkt die Ringer durch. Die anderen müssen draußen bleiben. "Das hat die so geärgert, dass sie einem von uns eine blutige Lippe schlugen."
Die Ringer haben jetzt keine Lust mehr auf Tanzen. "Wir hatten Sorge, dass es Ärger mit diesen Typen gibt", sagt Martin P., "deshalb wollten wir zurück nach Würzburg". Um 230 Uhr verlassen die Sportler die Disco.
Auf dem Weg zum Parkhaus lauern die Typen ihnen auf. Martin P. trifft ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Er fällt um, schlägt mit dem Kopf aufs Pflaster, verliert das Bewusstsein. Dass die Schläger auf seinem regungslosen Körper herum springen, weiß Martin P. nur von seinen Freunden. Sie können nicht eingreifen. Sie müssen ihre eigene Haut retten.
Die, die helfen könnten, tun es nicht. "Etwa 50 Leute" hätten herum gestanden und zugeschaut, erzählten die Sportkameraden Martin P. nach dem Überfall. Nur zwei amerikanische Soldaten hätten sich schützend über ihn gelegt. Als die Polizei eintrifft, rennen die Schläger davon.
Um 245 Uhr bringt ein Ambulanzwagen Martin P. mit schweren Schädel-Hirn-Verletzungen in ein Bamberger Krankenhaus, um 520 Uhr wird er mit dem Rettungshubschrauber in die Würzburger Universitäts-Klinik geflogen. Diagnose: Schädelbruch, Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades, Gehirnschwellung, Gehirnblutung. Lebensgefahr.
"Ich habe den Glauben an dieses System verloren"
Martin P.
Die Chancen stünden schlecht, sagen die Ärzte seinen Eltern. Wenn der Sohn überhaupt noch mal aufwache, dann wohl als Pflegefall.
Die Mediziner öffnen Martin P.'s Schädel, damit das geschwollene Gehirn Platz hat. Als sie ihm eine Schädeldecke aus Plastik einsetzen, überlegt der Vater, wie er das Haus der Familie in Würzburg behindertengerecht umbauen kann.
Fast vier Wochen liegt Martin P. im Koma. Seine Schultern werden schmaler. Als er aufwacht, lächelt er nicht. Er kann kaum reden, seine linke Körperhälfte ist gelähmt. Aber er will wieder laufen, wieder sprechen, wieder arbeiten. Martin P. plant sein zweites Leben. An die Männer, die das erste beendet haben, denkt er selten. Es kostet ihn schon Kraft genug, an sich selbst zu denken.
Die Ermittlungen gegen die Schläger ziehen sich hin. Im Oktober 2001 teilt die Bamberger Kripo Martin P.'s Anwältin mit, dass nun "fünf Tatverdächtige bekannt" sind. Als die Bamberger Staatsanwaltschaft Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt, ist es Ende Februar 2002 und der Überfall seit 19 Monaten Vergangenheit.
Martin P. hat wochenlange Klinikaufenthalte und monatelange Reha-Maßnahmen hinter sich. Seine Schultern sind wieder breiter geworden. Aber ringen kann er nicht mehr. Nur noch joggen und Fahrrad fahren. Zur Arbeit geht er nur stundenweise. Manchmal auch gar nicht, weil ihm schwindelig ist, weil er Kopfschmerzen hat, weil er sich nicht konzentrieren kann. Das zweite Leben des Martin P. ist mühsam. Jetzt denkt er öfter an die, die das erste beendet haben.
Im März 2002 erfährt Martin P., dass das Verfahren gegen zwei von ihnen "gemäß ¶ 154 Strafgesetzbuch behandelt worden" ist. "Was heißt das?", fragt er seine Anwältin Angelika Vöth. "Das heißt, dass die Bamberger Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat", antwortet sie und erklärt ihm, was Paragraph 154 bedeutet: Dass die Täter noch andere Straftaten begangen haben. Dass die Strafe, die ihnen dafür droht, hoch ist. So hoch, dass die Strafe für das, was sie Martin P. angetan haben, "nicht mehr beträchtlich ins Gewicht fallen würde".
Die Erklärungen interessieren Martin P. nicht. In seinem vernarbten Kopf kommen nur die Worte "Verfahren eingestellt" an. Sie erzeugen unendliche Wut. "Da gehen ein paar dahergelaufene Typen mit dir um, als wäre dein Leben nix wert und die Justiz interessiert das einen Scheißdreck", sagt er.
Wut kann stark machen. Martin P. findet sich nicht ab mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Mit Hilfe des Würzburger Soziologieprofessors Karl-Heinz Hillmann verfasst er einen Brief, schildert darin den Überfall und wie schwer er sich tut mit seinem zweiten Leben. "Ich habe den Glauben an dieses System verloren.
"Du musst Verbrecher sein, damit dir geholfen wird"
Martin P.
Mein Fall ist die Kapitulation des Rechts- und Sozialstaates", schreibt Martin P. ans Justizministerium, an den Innenminister, den Petitionsausschuss, verschiedene Abgeordnete, den Sozialreferenten der Stadt Würzburg. Seine Freunde lachen ihn aus. "Das interessiert doch niemanden", sagen sie.
Die Freunde irren. Am 7. August 2002 informiert die Bamberger Staatsanwaltschaft Martin P., dass gegen die Schläger Anklage erhoben wurde. Und dass er im Prozess als Nebenkläger auftreten und einen Entschädigungsanspruch geltend machen kann.
Das kostet Geld. Martin P., dessen Schultern wieder so breit sind wie vor dem Überfall, kämpft um Prozesskostenhilfe. Die Angeklagten sind mittellos. Ihnen ordnet das Gericht Pflichtverteidiger bei. Martin P. hat ein Einkommen und Ersparnisse. "In diesem Land musst du Verbrecher sein, damit dir geholfen wird", sagt er, "Opfer zählen bei uns nicht". Nach langem Hin und Her gewährt ihm das Gericht die beantragte Unterstützung. Und der Weiße Ring, eine Organisation zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern, gibt ihm eine Rechtsschutzzusage.
Der Prozess beginnt am 26. Juni 2003 vor dem Bamberger Amtsgericht. Angeklagt sind fünf Männer zwischen 22 und 30 Jahren, ein paar sind drogenabhängig, einer steht unter Bewährung, zwei sind wegen anderer Straftaten in Haft.
Martin P. ist Nebenkläger und Zeuge. Er hat zum ersten Mal "mit einem Gericht zu tun". Obwohl ein paar seiner Ringer-Freunde ihn begleiten, fürchtet er sich. Der Mann, der kaum durch eine schmale Tür passt, fühlt sich klein und hilflos. "Als ich die Angeklagten sah, ist alles wieder hoch gekommen", sagt er. Im Gerichtssaal setzt er sich mit dem Rücken zur Wand. "Die Typen lümmelten auf ihren Stühlen rum, kauten Kaugummi und lachten".
Drei machen keine Angaben, zwei bestreiten die Vorwürfe. In einer Pause schaut einer Martin P. tief in die Augen und zieht ganz langsam ein imaginäres Messer an seinem Hals entlang.
Der Staatsanwalt fragt Martin P. ob er die Schläger vor dem Überfall provoziert habe. Er muss sich zusammen reißen, damit er ruhig bleibt. "Ich war damals Ringer", antwortet er, "und wenn man ringt, ist man nicht auf Schlägereien aus".
Zwei Tage dauert der Prozess. Drei der fünf Männer werden verurteilt, zwei werden frei gesprochen, weil das Gericht ihnen "eine Tatbeteiligung nicht nachweisen kann". Der Hauptangeklagte bekommt vier Jahre und drei Monate, der zweite ein Jahr und vier Monate, der dritte zehn Monate mit Bewährung. "Viel zu wenig", sagt Martin P.
Zwei der Angeklagten müssen ihm laut Urteil 15 000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Nach der Verhandlung taucht der eine unter und ist bis heute verschwunden. Der zweite arbeitet nicht und hat kein Geld.
Von diesem Schmerzensgeld hat Martin P. bis heute "keinen Cent gesehen". Einen Gerichtsvollzieher will er nicht los schicken. "Den müsste ich selbst bezahlen", sagt er, "und bei diesen Typen ist ja nichts zu holen". Martin P. fühlt sich im Stich gelassen. "Für jeden faulen Sack und jeden Kriminellen hat unser Land Geld", sagt er, "nur für Gewaltopfer hat der Staat keinen Pfennig übrig."
"Für jeden faulen Sack hat unser Staat Geld"
Martin P.
Martin P. hat wieder breite Schultern und wehrt sich. "Wenn es schon keine Gerechtigkeit gibt", dann will er wenigstens zivilrechtlich Geld einklagen. Seit dem Überfall ist er nicht mehr so leistungsfähig, fällt im Betrieb oft aus, verdient weniger. Wenn die Migräne seinen Kopf in die Zange nimmt, kann er gar nicht arbeiten. Deshalb fordert er auch von dem dritten Täter Schmerzensgeld. Schließlich hat dieser Mann ihm den ersten Schlag versetzt.
Der Staat macht es Martin P. schwer, seine Ansprüche durchzusetzen. Es sei ihm "zuzumuten, sein Grundeigentum zu veräußern", wenn er "die Prozesskosten sonst nicht aufbringen kann", schreibt ihm das Landgericht Bamberg. Und er habe ja auch ein Auto, das er verkaufen könne "um den Erlös für die Prozesskosten einzusetzen". Wieder hilft der Weiße Ring.
Am 16. Februar 2005 schließt der Mann, der Martin P. den ersten Schlag versetzt hat, vor dem Bamberger Landgericht einen Vergleich mit seinem Opfer. Seitdem weiß Martin P. dass sein erstes Leben 9000 Euro wert war. Schultern, die eine solche Erkenntnis tragen können, müssen sehr breit sein.