In über 150 Rollen stand Harald Dietl auf der Bühne und vor der Kamera. Geboren 1933, hat er die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit miterlebt. In Augsburg aufgewachsen, ging er gegen den Widerstand seiner Eltern zum Theater, spielte Shakespeare und Nestroy, wirkte in Hollywood-Produktionen mit und ließ Steven Spielberg abblitzen.
In seiner bekanntesten Rolle spielte er 13 Jahre lang Kommissar Kalle Feldkamp in der Krimi-Serie „Die Männer vom K3“. Heuer ist er bei den Röttinger Frankenfestspielen als Petrus in „Der Brandnerkaspar schaut ins Paradies“ zu sehen. Ein Mann, der viel zu erzählen hat, und ebenso witzig wie geistreich erzählen kann.
Man sieht Ihnen Ihre 84 Jahre nicht an.
Harald Dietl: Das ist kein Verdienst.
Sie gehören ja noch der Kriegsgeneration an.
Dietl: Ja, ich kann auch heute noch nichts wegschmeißen. Kein Essen. Nach dem Krieg und in meinen Anfangsjahren hab ich Kohldampf geschoben. 160 Mark netto. 50 Mark Miete, 50 Mark für Unterricht, 20 Mark brauchte man für Schuhe besohlen, Wäsche waschen und so. Im ersten Jahr hab ich eine Mark am Tag zur Verfügung gehabt. Da gab's dreimal am Tag ein paar kleine Semmeln.
Und wenn Schwaben Augsburg in der Oberliga gespielt hat, bin ich nach dem Spiel rein und hab geguckt, ob ich eine Colaflasche finde. Manchmal waren es drei Stück, dann hab ich am nächsten Tag ein Stück Leberkäs gegessen. Aber ich hab's überstanden.
Sie haben erst Schriftsetzer gelernt. Weil es nichts anderes gab?
Dietl: Zu meiner Zeit wurde man ja erst mit 21 volljährig. Meine Eltern waren absolut dagegen, dass ich Schauspieler werde. Meine erste Rolle an den Städtischen Bühnen in Augsburg war in „Die Pest“ von Albert Camus. Meine Mutter ist, zehn Tage bevor ich 21 wurde, zum Generalintendanten Hans Meissner gegangen und hat gesagt: „Ich hab Karten für die erste Reihe. Wenn mein Sohn die Bühne betritt, betret' ich sie auch und hol ihn da runter“. Zum Glück wurde die Premiere dann verschoben, aber aus anderen Gründen.
Also haben sie sich ihren Beruf ein Stück weit ertrotzt?
Dietl: Ja, aber es hatte für mein späteres Leben einen Riesenvorteil. Ich musste für das, was ich geworden bin, meinen Eltern nie Dankeschön sagen. Das war meine Befreiung.
Gibt es sonst jemanden, der Dank für das verdient hat, was Sie geworden sind?
Dietl: Ich war heimlich im Bewegungschor in Augsburg. Da lernte ich ein Mädchen kennen und deren Vater war zufällig der Kulturreferent von Augsburg. Und der hat zu seinem seinem Generalintendanten gesagt „Ich kenn' da einen jungen Mann, der will zum Theater. Schauen Sie sich den mal an.“ Ich habe Texte auswendig gelernt, als Monolog zusammengekürzt und vorgetragen. Der befand mich für gut, für lernfähig.
Als ein glücklicher Zufall?
Dietl: Durch mein ganzes Leben zieht sich ein spanisches Sprichwort: Es gibt keine Zufälle ohne Grund.
Also besteht die Kunst darin, dem Zufall einen Grund zu geben?
Dietl: Der Araber würde es Kismet nennen. Das sind Dinge, die man zunächst nicht beeinflussen konnte.
Wie ging es dann weiter?
Dietl: Ich hab alles gemacht: Requisiten, Plakate ausgetragen. Ich stand im Beleuchterstand. Ich war Dramaturg und Regieassistent. Ich bin morgens um zehn ins künstlerische Büro gegangen und hab gefragt: „Wer ist krank, wo soll ich einspringen?“ Da gab's einen Schauspieler, dessen Rolle ich hier spiele, Gustl Bayrhammer, Gott hab ihn selig. Der kam damals nach seinen Anfangsjahren nach Augsburg. Für den hab ich einige Rollen übernommen.
Sie haben früh mit Film und Fernsehen angefangen.
Dietl: Ich hab 1956 meinen ersten Film gedreht und mein erstes Fernsehen. Wir hatten selber keinen, ich konnte mir auch keinen leisten. Ich spielte einen Bergmann nach einer wahren Begebenheit. In Belgien geschah ein großes Grubenunglück und im Ruhrgebiet waren viele Belgier, die nach dem Krieg nicht zurückkehren konnten, weil sie einer flämischen SS-Division angehört hatten. Diese Grubenarbeiter haben gesagt, wir müssen unsere Kumpels retten, und sind rüber gefahren. Die Kumpels wurde gerettet und die Retter sofort verhaftet. Der Film wurde nie gezeigt. Außenminister Heinrich von Brentano hat ihn gekauft. Man fürchtete außenpolitische Schwierigkeiten.
Vielen Schauspielern ist das Theater das Wichtigste. Warum Film und Fernsehen?
Dietl: Man macht's, weil es Popularität bringt, und Geld. Ich hab das immer so bezeichnet: Das Theater ist entweder die Mutter oder die Ehefrau. Du kannst dir zwischendurch mal eine Geliebte leisten, aber per Saldo kommst du immer wieder zur Ehefrau zurück. Das hört natürlich keine Ehefrau gern. Deshalb nehme ich heute lieber das Beispiel mit der Mutter. Aber die Bühne war für mich immer das Zentrale.
Wenn ich auf Ihrer Internetseite zusammenzähle, komme ich auf über 150 Rollen, die sie schon gespielt haben. Wie kriegt man das überhaupt alles in den Kopf? Und was bleibt hängen?
Dietl: Es gibt dreierlei Gedächtnisse. Vor drei Jahren, ich war gerade 80, traf ich den Robert Freitag, mit dem ich 1957 einen Film gedreht hab. Und da haben wir synchron den Raul aus der schillerschen Jungfrau vorgetragen. Ich hab später Rollen übernommen, die hätte ich auch zwei Jahre später von Dienstag auf Donnerstag wieder gespielt. Das Kurzzeitgedächtnis ist beim Synchronsprechen gefragt. Da kriegen Sie eine Passage vorgespielt und dann wird auf drei angezählt und in diesen drei Sekunden lernt man diese drei bis fünf Zeilen auswendig.
Das hast du zehn Minuten später völlig vergessen. Mein Rekord waren mal 423 Takes an einem Tag. Dann kommt das Mittelzeitgedächtnis. Wenn meine Frau sagt, am Donnerstag kriegen wir Besuch, hab ich das schnell wieder vergessen, weil ich vielleicht gar nicht richtig zugehört habe. Aber dafür hat man ja einen Partner, der kann sich das doch merken.
Gibt es noch Rollen, die sie gerne spielen würden?
Dietl: Bei den Soldaten habe ich alle Ränge durchgespielt, vom irischen Rekruten bis zum General Harras in „Des Teufels General“. Eine Militärrolle hab ich nie gekriegt: den Hauptmann von Köpenick. Den hätte ich so gerne gespielt.
Kann ja noch kommen.
Dietl: Nö, da bin ich zu alt. Der Text geht nicht mehr in den Kopf. Das ist zu viel.
Gibt es auch Rollen, die daneben gegangen sind?
Dietl: Der Künstler ist nicht ehrlich, der sagt „Ich habe noch nie eine Rolle in den Sand gesetzt“. In Jagsthausen hab ich mal den Sickingen gespielt, den Schwager von Götz von Berlichingen. Zu dem hab' ich überhaupt keinen Bezug bekommen. Ich hab's halt auswendig gelernt und aufgesagt.
Gibt es auch Rollen, die Sie abgelehnt haben? Sind sie wählerisch?
Dietl: Ich würde keinen Nazi mehr spielen. Das hab ich oft genug getan. Mein letzter war in „Wannsee-Konferenz“. Da saßen wir fünf Wochen lang, zwölf Mann, am Tisch. Es ging nur um die Judenverfolgung. Plötzlich fängt diese braune Uniform an zu jucken. Und dann haben alle diesen Himmler-Haarschnitt gehabt. Ich bin mit zwei Kollegen ins Theater gegangen, und alle drei Ehefrauen haben gesagt: Geht ihr mal da rüber mit eurem Schnitt. Und dann musst du auch noch solche Sätze sagen wie: „Hauptsturmführer, in kann ihnen melden, Lettland ist judenfrei“. Das ging uns selber so unter die Haut. Davon hab ich genug. Ich sollte bei Steven Spielberg einen Nazi spielen, in „Schindlers Liste“.
Und haben abgelehnt?
Dietl: Ja.
Da gehört schon Chuzpe dazu, Steven Spielberg zu sagen: Such dir einen anderen Nazi. Gab es auch Zeiten, in denen es schwer war, etwas Neues zu finden?
Dietl: Natürlich, da hab ich was anderes gemacht. Da bin ich gereist oder hab ein Buch geschrieben. Ich bin gerade beim neunten.
Gutes Stichwort: Zur Zeit des Kalten Krieges haben Sie für den Weltspiegel Aufsehen erregende Reportagen gemacht, etwa aus China während der Kulturrevolution, aus Birma während der Diktatur oder aus Vietnam kurz nach dem Krieg. Wie kamen Sie zum Journalismus?
Dietl: Als Journalist hätte ich in die Länder gar nicht einreisen dürfen, oder es hätte ständig jemand hinter mir gestanden, der aufpasst. Aber mich als Schauspieler haben die nicht ernst genommen. 1967 hab ich in Köln ein Boulevardstück gespielt und mir abends am Bahnhof den Wiener Kurier gekauft, weil ich mal am Burgtheater gastiert habe. Da stand drin: Der österreichische Lehrerverband nimmt eine Einladung der Volksregierung in Peking an. Ich hab hingeschrieben und gesagt, ich bin zwar kein Lehrer und habe meine immer sehr geärgert, aber ich würde gerne mitfahren. Und sie hatten Platz. Da hat ein kleines Männchen in meinem Kopf gesagt: Geh zum Weltspiegel beim WDR und frag, ob die das interessieren könnte. Als ich Chefredakteur Hans-Werner Hübner das Programm gezeigt habe, hat er gesagt: „Junger Mann, wenn Sie da lebend rauskommen, interessiert mich jeder Meter Film von Ihnen.“
War das Abenteuerlust, oder standen politische Motive dahinter?
Dietl: Nein, pure Abenteuerlust. Und es waren rein die Menschen, die mich interessiert haben. Und die zauberhaftesten waren die Burmesen und die Vietnamesen kurz nach dem Krieg. Und dann die Kinder – ich hätt' sie stehlen können.
Es ist ein weiter Bogen von Südostasien nach Röttingen. Aber natürlich interessiert mich brennend, wie Sie zu den Frankenfestspielen gekommen sind. Röttingen ist schließlich nicht gerade der Nabel der Welt.
Dietl: Nein, aber man kann ihn von hier aus sehen. An und für sich wollte ich keinen Text mehr lernen und hab das auch verkündet. Dann rief mich Pavel Fieber an und fragte: „Du, ich mach denn Brandnerkaspar, magst du den Petrus spielen?“ Bevor ich denken konnte, hab ich ja gesagt. Die Rolle an sich ist eine Garantie. Die zweite Garantie war der Regisseur Pavel Fieber, den ich seit 1963 kenne. Und die dritte Garantie ist, dass der ein kollegiales Ensemble zusammenstellt, wo alles stimmt, kein Stinkstiefel dabei ist. Diese drei Dinge sind zusammengekommen. Dann war es nicht zu viel Text. Ich hab ihn beizeiten geübt. Ich üb' ja mit einem Sektkorken im Mund, ähnlich wie der griechische Redner Demosthenes. Der stand am Strand und hatte Kieselsteine im Mund, weil er stotterte. Und er rief gegen den Wind an.
Hilft eine Sektkorken dabei, gut zu artikulieren?
Dietl: Ja, ich muss es erst gut in der Sprache haben. Dann ist es schon halb im Hirn. Auch Klassiker. König Lear ohne Korken kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich bin natürlich für die jungen Schauspieler ein Fossil. Die lernen nicht mehr, wie man spricht.
Haben Sie Röttingen vorher gekannt?
Dietl: Nein, ich hab's am Anfang nicht mal auf der Karte gefunden. Aber ich hab folgendes gemacht: Ich hatte eine Lesung in einer Buchhandlung bei Darmstadt und da bin ich über die Landstraße hierher und hab mir das Quartier und die Bühne angeguckt. Und das war alles sehr nett.
Die Frankenfestspiele sind ja der fortwährende Versuch, mit einfachen Möglichkeiten großes Theater zu machen.
Gelingt das?
Dietl: Ja, ich denke schon. Du musst natürlich mit den Leuten reden. Es ist nicht wie am großen Stadttheater, dass man fest angestelltes Personal hat. Die Englein hier, die mit mir auf der Bühne stehen, die, die die Garderobe machen und dafür sorgen, dass die verschwitzten Hemden gewaschen und gebügelt werden. Da muss man Bitte sagen und ganz oft Danke. Das Team hier, der ganze Ort – es sind ja nur 2000 – die sagen alle „Grüß Gott“ zueinander. Auch zu mir. Es ist sehr angenehm, das hier zu erleben.
Und wie geht's nach Röttingen für Sie weiter?
Dietl: Ich mach Urlaub von der Rente in Mallorca. Am 12. August ist die letzte Vorstellung, am 15. flieg ich. Dann arbeite ich an meinem neunten Buch. Dafür such' ich noch einen Verleger. Aber auf der Bühne ist erst mal nichts. Das nächste Angebot ist 2018. Wenn ich dann noch lebe. Hat alles Zeit.
Infos und Karten für die Röttinger Frankenfestspiele unter Tel. (0 93 38) 97 28-55 oder im Internet: www.frankenfestspiele.de.