Freitags ab 14 Uhr hat Amelie Hildebrand keine Zeit. Zumindest für niemand anderen als Jan. Denn dann gehen die beiden spazieren, spielen Karten, unterhalten sich oder blödeln einfach ein bisschen rum. Jede Woche, jeweils zwei Stunden. Seit Juli 2021 machen sie das so. Den Rest der Woche sehen sie sich nicht. Und wahrscheinlich hätten sie sich ohne Sydney McQueen nie getroffen. Denn das ist McQueens Job: Menschen mit Behinderung und Ehrenamtliche zusammenzubringen.
Wenn sich Sonderpädagogik-Studentin Amelie Hildebrand und der 34-jährige Jan treffen, ist da keine Spur vom "Betreuer-Betreute"-Gefälle, das man im sozialen Bereich sonst mitunter beobachten kann. Es gibt nicht diese professionelle Distanz. Es ist ein vertrautes Verhältnis, freundschaftlich, ganz auf Augenhöhe. An diesem Freitag entscheiden sich die beiden für einen Spaziergang. Jan wohnt in der Nähe des neuen Würzburger Landesgartenschaugeländes. Dorthin machen sie sich auf den Weg.
Angebot der Mainfränkischen Werkstätten
Amelie Hildebrand sagt, "die Arbeit mit Menschen mit Behinderung interessiert mich sehr". Sie sei ein praxisorientierter Mensch, das Studium manchmal sehr theorielastig, da kam ihr das Angebot der Mainfränkischen Werkstätten der Lebenshilfe sehr gelegen. "Die Treffen mit Jan kosten mich zwar Zeit, aber ich bekomme so viel von ihm zurück", erzählt sie. Das sehen auch Außenstehende sofort: Obwohl die Freitagstreffen irgendwie "abgesprochen" sind – beide strahlen, sobald sie sich sehen.
Für Sydney McQueen sind Amelie und Jan eine Vorzeige-Paarung – aber letztlich würde sie zu jedem ehrenamtlichen Angebot, das der von ihr aufgebauten Koordinierungsstelle Ehrenamt gemacht wird, unter den Bewohnern oder Mitarbeitern der verschiedenen Lebenshilfe-Einrichtungen in Unterfranken jemand passenden finden. "Ein solches Ehrenamt kann wirklich alles sein", erläutert McQueen: "Vom gemeinsamen Spazierengehen über Aquarellmalen und Kochen bis zum Konzertbesuch."
Finanziell gefördert von der Aktion Mensch
Die Koordinierungsstelle Ehrenamt gibt es seit etwas mehr als eineinviertel Jahren, sie wird finanziell von der Aktion Mensch gefördert. Die Idee dahinter: Erwachsene Menschen mit Behinderung leben oft in Wohngruppen, sofern sie einer Arbeit nachgehen, sind sie tagsüber zwar unterwegs - jedoch findet das alles zumeist in betreuten Gruppen statt. "Etwas Individuelles, Eigenes haben die meisten nicht", weiß McQueen: "Etwas für sich zu machen, ohne Gruppe, das geht ohne fremde Hilfe oft nicht."
Sonderpädagogik-Studentin
Dafür gibt es mehrere Gründe. "Unsere Städte sind einfach nicht barrierefrei", sagt McQueen. Wer auf den Rollstuhl angewiesen ist, komme ohne Hilfe mitunter nicht von A nach B – und selbst wenn, seien gewöhnliche Alltagssituationen ein Hindernis, etwa weil die Kassenbänder für Menschen im Rollstuhl zu hoch sind. Zudem gebe es rechtliche Hindernisse: Viele Menschen mit Behinderung stünden unter Betreuung, etwa weil sie orientierungslos sind. Sie dürfen gar nicht alleine unterwegs sein.
Ein wichtiger Wochenabschluss
So ist das auch bei Jan. Unter der Woche lebt er in der Wohngruppe, am Wochenende fährt er nach Hause zu seinen Eltern. Unternehmungen ohne Gruppe und Familie – vor den Treffen mit Amelie war das für ihn eine absolute Ausnahme. "Für Jan ist das inzwischen ein wichtiger Wochenabschluss. Er bekommt am Freitag Besuch, er unternimmt was", sagt die Studentin: "Das ist alleine sein Ding." Wie die Treffen ablaufen, plane daher auch nicht sie: "Wir entscheiden gemeinsam, was wir machen."
Dass sich Menschen mit und ohne Behinderung "ganz von alleine" treffen und solche Tandems wie Amelie und Jan bilden – eine schöne Idee, nur nach wie vor nicht die Realität. "Berührungsängste und Unsicherheiten im sozialen Nahraum" der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung "verhindern oft, dass dort Begegnungen entstehen", sagt McQueen. Zudem funktioniere Ehrenamt ohne Hauptamt auf Dauer nur selten: "Ehrenamtliche brauchen Anerkennung und einen professionellen Unterbau."
Koordinierungsstelle Ehrenamt
Den bietet die Koordinierungsstelle Ehrenamt: Wer sich für eine ehrenamtliche Freizeitpartnerschaft interessiert, wird zu einem Gespräch eingeladen, bei dem die Rahmenbedingungen geklärt werden - etwa, wie oft man Zeit hat und wozu man Lust hat. Es folgt ein Einsteigerkurs, in dem man etwa auf besondere Situationen vorbereitet wird oder medizinische Fragen beantwortet bekommt. Darüber hinaus werden die Ehrenamtlichen engmaschig begleitet, wenn sie das wünschen und brauchen.
Wichtigster Knackpunkt aber ist, dass es zwischen den jeweiligen Tandempartnern passt. "Anfangs dachte ich, wir treffen uns alle zwei Wochen - aber es hat von Anfang an so gut geklappt, dass wir uns seither wöchentlich treffen", sagt Hildebrand. "Niemand muss Sorge haben, dass die Treffen mit viel Aufwand verbunden sein müssen", sagt McQueen: "Wir haben etwa einen Bewohner, der bringt gerne Altglas weg. Er sucht eine wöchentliche Begleitung zum Altglas-Container. Dauer: 20 Minuten."
Jan heißt im richtigen Leben anders. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verwenden wir hier ein Pseudonym, auch wenn wir die Einwilligung hatten, ihn zu fotografieren.