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WÜRZBURG
Dieter Leistner, der Fotograf, der das Warten knipst
„Waiting” - im Rundfunkgerät? Seoul, Korea, 2012.
Foto: Dieter Leistner | „Waiting” - im Rundfunkgerät? Seoul, Korea, 2012.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:52 Uhr

Knipsen. Er sagt tatsächlich knipsen, wenn er über seine Arbeit spricht. Und es sagt viel aus. Zum Beispiel, dass es Dieter Leistner – obgleich Professor seit fast 20 Jahren – nicht allzu akademisch nimmt mit seiner Profession. Dass er nichts von Dünkel hält, nichts von akademischem Gewese. Und es bedeutet auch, dass es dem Fotografen um die Freude geht, bei dem was er tut. Spaß haben! Wer mit der Kamera unterwegs ist, sollte glücklich werden damit.

Also Knipsen. Sein erstes Bild knipste Dieter Leistner, Jahrgang 1952, im Alter von acht Jahren. Heimlich, auf Sylt, mit der stibitzten Kamera des Vaters. Darauf zu sehen in griseligem Schwarz-Weiß: Düne, Campingtisch, Klappstühle, Zelt. Dieses Frühwerk: quasi eine Vorankündigung. Dass Dieter Leistner später nämlich viel auf Reisen und gerne unterwegs sein würde in der Welt. Und dass er seine Berufung – Zelt! – in der Architekturfotografie finden sollte.

Aber erst einmal: Schreinerlehre. Weil der Vater es so wollte und Leistner mal die heimische Werkstatt übernehmen sollte. Irgendwann wurde es dem jungen Tischlergesellen zu eng und er floh ins Saarland. „Professor“ nannten die Kollegen hämisch den Neuen, weil der nicht „Bild“, sondern „Zeit“ las. Noch eine Vorahnung . . .

Dieter Leistner ging den zweiten Bildungsweg, studierte in Köln und Wuppertal erst Fotoingenieurwesen und dann – weil es ihm weniger um die Technik, als um die Gestaltung, das gute Bild ging – Fotografie an der Folkwangschule in Essen. So kam's, dass Leistner 1978 seine erste Haltestelle fotografierte. Weil: Er wollte das Ruhrgebiet kennenlernen. „Aber mit dem Auto siehste nichts. Also dachte ich: Nimmste die Straßenbahn und fährste mal rum.“

Er bot den Verkehrsbetrieben in Wuppertal Pressefotos an und organisierte sich für sechs Wochen einen Freifahrschein. Am Ende hatte die Pressestelle vorzeigbare Bilder, Dieter Leistner das Ruhrgebiet kennengelernt – und ein Büchlein über Straßenbahnhaltestellen gemacht.

Und egal was danach kam – Examensarbeit über Badetempel mit streng frontalen Innenraumansichten öffentlicher Hallenbäder der Gründerzeit und des Jugendstils, Architekturaufnahmen mit steilem Blick nach oben, Freiberuflerdasein, dann Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Dortmund – er knipste einfach weiter Haltestellen. Wo immer er in der nahen und weiten Welt unterwegs war.

Warum? „Vergleichbarkeit“, sagt der 65-jährige Professor. „Vergleichbarkeit ist aufwendig. Aber das macht außer mir ja keiner.“ Und gute Fotoideen seien dumme Ideen, einfache Ideen. „Man muss sie nur machen und sich trauen, dann gibt es geile Bilder.“

Seit 40 Jahren also beobachtet Dieter Leistner, der nicht nur in Fach- und Baumeisterkreisen zu den bekanntesten Architekturfotografen gehört, weltweit Haltestellen durch seine Kamera. Oder besser: Menschen beim Warten. Weil überall gewartet wird. Immer wieder, oft unfreiwillig, allein oder in der Gruppe. Auf dem Land wie in der Stadt. In Würzburg, wo Leistner seit 1999 an der Fachhochschule lehrt, wie in Kirgisien, Neuseeland oder am Äquator. „Man wartet, dass man schneller weiter kommt“, sagt der Fotograf lächelnd zu den Haltestellenmomenten, Geduldsproben, Zeitvertreibsherausforderungen. „Ich knips das ja immer weiter . . .“

Normalerweise nimmt sich Leistner ja für ein Foto viel Zeit. Für Standort, Ausschnitt, Licht. Für präzise Symmetrie, markante Farbskalen, flächige, orthogonale Aufnahmen. Er setzt sich lange mit einem Raum auseinander. Nicht, weil er ein Gebäude exakt abbilden will. Jedenfalls nicht in erster Linie. Leistner will die Idee des Architekten anschaulich machen, dessen Intention, wenn er Bauwerke fotografiert. Also sucht er Details, lockt sie hervor mit Licht, lenkt den Blick von unten nach oben. Und wenn ein Haus scheußlich ist? „Dann muss einem schlecht werden, wenn man das Bild sieht.“

Wartende Menschen zu fotografieren? Dieser Moment, in dem eine Alltagsbewegung innehält? Das ist Zeit festhalten. Und der Zufall darf schon mitspielen dabei. Beim Selbstporträt in der Vorarlberger Bushaltestelle zum Beispiel, da fuhr just beim Selbstauslöserknipsen ein Radfahrer ins Bild. Das freut den Fotografen: „Den hatte ich gar nicht bemerkt.“ Und wenn zufällig japanische Touristen vorbeikommen und fachkundig das kunstvolle Gestänge der Haltestellen in der Landschaft begutachten – herrlich.

Vor zwölf Jahren hatte Dieter Leistner dann die Gelegenheit, den öffentlichen Raum in Pjöngjang zu fotografieren. Fünf Jahre lang hatte er auf das Visum gewartet, dann bekam er einen Begleiter an die Seite und durfte offiziell eine fotografisch-künstlerische Bestandsaufnahme von Nordkorea machen. Mit 4000 Aufnahmen kam er zurück. . . Die verbotenen Bilder, die er heimlich machte – zum Beispiel Großer-Führer-Statue von hinten – zeigt er besonders gerne.

Und natürlich warten in Pjöngjang Menschen an Haltestellen. So wie in Seoul, der südkoreanischen Hauptstadt, in die Leistner sechs Jahre später reiste. Stichwort Vergleichbarkeit. . .

Was ihm in Nordkorea zum Beispiel auffiel: keine alten Menschen, nirgends. „Ich weiß nicht, wo die sind.“ Dafür putzen überall in der Stadt die Jungen die Straßen. In Südkorea? Da fotografieren sich die Leute.

Menschen, die sitzen. Menschen, die stehen. Die sich unterhalten. Däumchen drehen. Zeitung lesen (früher) oder auf dem Smartphone daddeln (heute). Die in sich versunken sind oder hektisch nach dem Bus Ausschau halten. Die rauchen oder nicht. Die in die Luft gucken oder nicht.

Und dann ist da ja noch die Architektur der Haltestellen, die Leistner – Vergleichbarkeit! – schon auch interessiert. Schlichte Haltestellen oder originelle wie das Radio in Südkorea. Aus Glas, aus Beton, aus nur einer Bank oder noch reduzierter nur einem provisorischen Schild. . . Oder so wie das futuristische Ding in Rohrbach in Vorarlberg, wo man nur bei schönem Wetter warten sollte. Oder wenigstens einen Regenschirm dabei haben.

Apropos schönes Wetter. Gerade geht Dieter Leistners letztes Semester an der FH zu Ende. Was der Schreiner, der Fotografieprofessor wurde, nach der Emeritierung tut? Keine Frage. Er hat ja genug Langzeitprojekte. „Weiterknipsen.“

Ausstellung:

Der Kunstverein Würzburg zeigt auf der Arte Noah im Alten Hafen bis 11. Juli unter dem Titel „Äpfel und Birnen“ Werke von Dieter Leistner: u.a. aus den Serien wartende Menschen an Haltestellen, Hallenbäder der Gründerzeit und des Jugendstils, Aufblicke in Gebäuden. Öffnungszeiten: Donnerstag, Freitag

und Samstag von 15 bis 18 Uhr, sonntags von 12 bis 18 Uhr. Stündlich gibt's dann kostenlose zehnminütige Führungen.

„Waiting“ – auf den Seychellen.
Foto: Dieter Leistner | „Waiting“ – auf den Seychellen.
waiting_rohrbach_österreich_2017       -  Dieter Leistner, mal selbst an der Haltestelle. Beim Selbstauslöser-Bild in Rohrbach in Vorarlberg 2017 fuhr im Moment des Fotografierens zufällig ein Radfahrer ins Bild. Dieter Leistner
Foto: Foto: | Dieter Leistner, mal selbst an der Haltestelle. Beim Selbstauslöser-Bild in Rohrbach in Vorarlberg 2017 fuhr im Moment des Fotografierens zufällig ein Radfahrer ins Bild. Dieter Leistner
waiting_krakau_polen_1980       -  „Waiting“ in Krakau, Polen, 1980
Foto: prof. dieter leistner | „Waiting“ in Krakau, Polen, 1980
waiting_lujan_argentinien_2017       -  „Waiting“ – in Lujan, Argentinien, 2017.
Foto: prof. dieter leistner | „Waiting“ – in Lujan, Argentinien, 2017.
Das ist eine Haltestelle? Das ist eine Haltestellen. Im architektonisch mutigen Vorarlberg, bewundert von einer Gruppe Touristen aus Fernost. Dieter Leistner
Foto: Foto: | Das ist eine Haltestelle? Das ist eine Haltestellen. Im architektonisch mutigen Vorarlberg, bewundert von einer Gruppe Touristen aus Fernost. Dieter Leistner
„Waiting“ – in Wanne-Eickel, 1978.
Foto: Prof. Dieter Leistner | „Waiting“ – in Wanne-Eickel, 1978.
Pyongyang, Nordkorea, April 2006, Stadtansichten, Asien       -  „Waiting“ – wenn de Schlange kein Ende hat . . . Pyongyang, Nordkorea, 2006.
Foto: Prof. Dieter Leistner | „Waiting“ – wenn de Schlange kein Ende hat . . . Pyongyang, Nordkorea, 2006.
„Waiting” - am Philosophischen Institut am Hubland, Würzburg 2018.
Foto: Prof. Dieter Leistner | „Waiting” - am Philosophischen Institut am Hubland, Würzburg 2018.
 
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