Vor 70 Jahren kehrte der gebürtige Würzburger und spätere Reichenberger Ehrenbürger Wolfgang Schindler aus der Kriegsgefangenschaft in England nach Hause zurück. Sein Sohn, der Journalist Holger Schindler (62), erkundete im Sommer dieses Jahres vor Ort, wie sein Vater in England gelebt hat – hier der Bericht:
Eardisley, ein englisches 600-Seelen-Dorf auf der Höhe von Birmingham. Der Wind bläst kräftig, Baumriesen wiegen und biegen sich. Es ist eine abgelegene Gegend an der Grenze zu Wales.
Von der Schulbank in den Krieg geschickt
Am 13. März 1946 steigt Wolfgang Schindler hier mit anderen deutschen Kriegsgefangenen von einem britischen Armee-Lastwagen. Er ist 23 Jahre alt, von der Schulbank mit 18 in den Krieg nach Russland geschickt, nach einer Odyssee um die halbe Welt nun hier gestrandet. Fast zwei Jahre wird er in dem englischen Kriegsgefangenenlager 48 verbringen. Es ist das POW-Camp 48 Presteigne/Eardisley – POW steht für Prisoner of War (englisch: Kriegsgefangener).
Die ersten Tage wird er auf einem Bauernhof zum Arbeiten eingesetzt. Wegen seiner guten Englisch-Kenntnisse bekommt er bald eine andere Aufgabe: Er wird Interpreter, also Übersetzer, und rechte Hand des britischen Lagerkommandanten, das bedeutet, er ist jetzt stellvertretender Lagerleiter.
Neben der Dorfschule führte die Straße zum Camp. Das Gelände wirkt trostlos. Ein Abfallfass raucht vor sich hin und verbreitet einen stechenden Geruch. Hier haben die Baracken aus gebogenem Wellblech gestanden, berichtet Malcolm Mason, der sich seit Jahren mit der Geschichte seines Dorfes Eardisley beschäftigt. Vom Lager ist nichts mehr übrig. Die Baracken wurden abgerissen, heute befindet sich auf dem Gelände ein Gewerbegebiet.
Gefangene aus dem Land des Kriegsgegners
Gibt es noch Zeitgenossen, die das Camp kannten? Ich treffe den Farmer David Powell. „Ich kann mich an das Lager erinnern“, erzählt der rüstige 87-Jährige. 17 Jahre alt war er damals, 1947, vor 70 Jahren. Als Jugendliche seien sie manchmal ins Camp gegangen. Etwas reserviert wirkt er bei seiner Erinnerung. Ein Wunder? Immerhin lebten in dem Lager Soldaten des Kriegsgegners, der zuvor viel Angst und Leid auch in diese ländliche Gegend gebracht hatte.
Die Kriegsgefangenen haben gearbeitet, sagt er, „wir hatten auch welche auf unserer Farm“. Wohl auch dadurch ist das Verhältnis zwischen Einheimischen und den Gefangenen mit der Zeit besser geworden.
In dem Lager lebten mehr als 2000 Kriegsgefangene. 50 Männer teilten sich eine Baracke. Es gab eine Küche, eine Kantine, Aufenthaltsräume, eine Krankenstation und einen Veranstaltungsraum, der für Konzerte und Filmvorführungen genutzt wurde. Auch eine Band gab es im Camp, sie nannten sich nach dem Lager „Die 48er“.
Arbeit auf Bauernhöfen
Die Gefangenen arbeiteten meist auf den umliegenden Bauernhöfen. Um 7 Uhr wurden sie mit Bussen abgeholt, zwischen 17 und 18 Uhr kehrten sie zurück. Ihre Arbeit wurde bezahlt, sie erhielten 14 Schilling pro Woche in Camp-Währung, die in den örtlichen Geschäften eingetauscht werden konnte, dazu 14 Schilling in bar.
Der Tagesablauf: 6 Uhr wecken, es ertönte der Ruf: „Rise! Rise!“ (englisch: aufstehen). Die englische Aussprache „reise, reise“ legte für die Deutschen den Gedanken nahe, es ginge auf die Heimreise. 6.30 Uhr Frühstück, 12 Uhr Lunch, 18 Uhr Dinner. Um 22 Uhr wurden die Lichter gelöscht.
Nur ein Deutscher versuchte zu fliehen, er wurde aber schnell gefasst. Zu ihrer Überraschung hatten die Gefangenen festgestellt, dass ihre Verpflegung meist besser war als die der einheimischen Bevölkerung, die auf Lebensmittelmarken angewiesen war. So teilten sie Kaffee und Süßigkeiten mit den Menschen im Dorf.
Nach sechs Wochen erstmals Post aus der Heimat
Im März 1946 also trifft Wolfgang Schindler im Camp 48 ein. Nach sechs Wochen bekommt er zum ersten Mal Post von seinen Eltern – nicht aus seiner Heimatstadt Würzburg, sondern aus Völkersleier in der Rhön. Dorthin hatte es die Familie verschlagen, nachdem ihre Wohnung in der Hindenburgstraße 5 (heute Friedrich-Ebert-Ring), wie ganz Würzburg am 16. März 1945 von englischen Bombern in Schutt und Asche gelegt worden war. Der Familie blieb nur das nackte Leben. Das fristeten sie nun, ein entwurzelter Orgel-Professor und eine Ärztin ohne Praxis, samt der gemeinsamen Tochter in einem Zimmer auf dem Bauernhof der Familie Fürst.
Im Herbst 1946 beginnt für Wolfgang Schindler ein hoffnungsvolles Kapitel in seiner Zeit in England: „Im September 1946 kamen Herr und Frau Dawkins zu Besuch ins Lager“, ist seinen kurzen Aufzeichnungen zu entnehmen. Die Verbindung zu der englischen Familie wird zu einer tiefen Freundschaft und sein ganzes Leben andauern. Wer waren die Dawkins? Ein junges Pfarrerehepaar mit fünf kleinen Kindern. Der junge Würzburger freundet sich mit der Familie an, fast täglich geht er zu ihnen.
Erinnerung an „Uncle Wolfgang“
Der damals 6-Jährige Godfrey Dawkins – er ist heute 76 Jahre alt und lebt Missionar in Kenia – erinnert sich lebhaft an Wolfgang Schindler, den er „Uncle Wolfgang“ nannte und der ihm „wie ein Engel“ erschien: „Ich denke, die Gefangenen wurden ermutigt, sich in der Gemeinde nützlich zu machen, und sie haben es getan. Wolfgang erledigte bei uns alle niederen Haushaltsarbeiten. Es gab kein fließendes Wasser im Haus. Es musste in einem Eimer aus dem Brunnen im Garten geholt werden. Wolfgang tat das und wusch unzählige Windeln, die auf der Wäscheleine zu Eisflaggen erstarrten. Kochen, putzen und die kleineren Kinder versorgen, die beiden älteren Kinder in die Dorfschule bringen und wieder abholen.“
Die junge Mutter, Mathilde Dawkins, war jüdisch und 1939 vor den Nazis aus ihrer Heimat Böhmen zu Verwandten nach Kenia geflohen. Viele Familienmitglieder wurden von den Nazis getötet. Im Oktober 1947 nun kommen die wenigen Überlebenden nach Eardisley: ihre Mutter und ihre Schwester, die beide im KZ waren, und ihr Bruder, der in Berlin versteckt überlebte. Wolfgang Schindler ist mittendrin und hilft, den schwierigen Alltag zu bewältigen. „Höchst ergreifend“ nennt Godfrey Dawkins, was der junge Deutsche in der Familie an jüdischem Schicksal mitbekommt.
Anklage vor dem britischen Militärgericht
Im Februar 1947 muss sich der Würzburger vor einem Militärgericht verantworten. Der Grund: Auseinandersetzungen mit dem neuen englischen Lagerleiter Sergeant Kay – „ein Deutschen-Hasser, der mich drangsalierte“, ist seinen Aufzeichnungen zu entnehmen. „Ich meldete das einem Offizier. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung in Presteigne, von der ich rehabilitiert zurückkam.“ Es ist schier unglaublich: Der britische Lagerleiter wird versetzt, der Kriegsgefangene Wolfgang Schindler bleibt auf seinem Posten als Stellvertreter.
Auf den 17. August 1947 ist eines der wenigen Fotos von Wolfgang Schindler als Gefangener in England datiert. Es zeigt ihn in Stiefeln und kurzen Hosen bei seiner Haupttätigkeit im Lager: schreiben. Er musste Listen führen. Listen mit den Arbeitsstunden der Gefangenen, Listen über alle Vorgänge im Lageralltag.
„Abends gab ich meinen Kameraden Englisch-Unterricht. Als stellvertretender Lagerleiter hatte ich bei Schwierigkeiten mit Arbeitgebern unserer Kameraden zu schlichten. Ich musste bis zu 13 Mal am Tag Tee zum kommandierenden Sergeant bringen, was nicht schlimm war. Aber im Lager gab es eine Latrine, die mit Eimern arbeitete, und diese Eimer musste ich regelmäßig in ein gegrabenes Becken leeren und mit irgendeinem Pulver bestreuen“, berichtet er in seinen Memoiren.
Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft
Am 20. November 1947, erhält Wolfgang Schindler den Repatriierungsbefehl – er darf zurück nach Deutschland. Am 17. Dezember 1947 kommt er mit dem Zug in Hammelburg an. Nach sechseinhalb Jahren als Soldat und Kriegsgefangener ist der jetzt 25-Jährige wieder daheim. Zu seiner Entlassung bekommt er ein Stück Brot und das Ende eines Fleischwurstrings ausgehändigt.
Am Bahnhof wird er von seinen Eltern und seiner Schwester empfangen. Am nächsten Tag fahren sie mit einem offenen Milchauto nach Völkersleier und feiern dort Weihnachten. Geschenke gibt es keine. Außer einem: Sie haben überlebt.
Wolfgang Schindler
Wolfgang Schindler wird am 22. August 1922 in Würzburg geboren. Nach dem Not-Abitur 1941 wird er zur Wehrmacht einberufen und kommt als Funker an die Ostfront. 1944 wird er nach Frankreich verlegt, im August 1944 gerät er in der Normandie in Gefangenschaft.
Nach der Rückkehr aus dem Kriegsgefangenenlager in England (1947) wird Wolfgang Schindler Lehrer und unterrichtet ab 1952 an der Volksschule in Reichenberg. Aus dem Ort berichtet er ab 1965 für die Main-Post. 1978 wird er Schulleiter der Grundschule Reichenberg und geht 1984 in den Ruhestand. 1987 erhält er das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1991 wird er zum Ehrenbürger der Gemeinde Reichenberg ernannt. Wolfgang Schindler stirbt 2006.