An einem Freitagvormittag vor 15 Jahren, am 26. April 2002, erschoss ein 19-jähriger Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium während der Abiturprüfung zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten. Anschließend tötete er sich selbst.
Zu diesem Zeitpunkt war Bernhard Meißner gerade auf dem Weg zu einem Treffen der bayerischen Schulpsychologen. Der Würzburger war damals einer der wenigen in Deutschland, die auf einen Amoklauf vorbereitet waren. Drei Wochen zuvor waren er und einige seiner bayerischen Kollegen von einem amerikanischen Spezialisten geschult worden.
Spontan boten sie an, nach Erfurt zu fahren. Wir sprachen mit Bernhard Meißner über das, was er dort erlebte. Er rät, wie Überlebende mit Jahrestagen umgehen können.
Bernhard Meißner: Wir haben ihnen vermittelt: Wir wissen, was wir für euch tun können. Wir haben ihnen gesagt: Eine Schockreaktion ist nach so einem entsetzlichen Geschehen üblich. Jeder reagiert anders. Jetzt gilt es, sich weder von Gefühlen völlig überwältigen zu lassen, noch das Erlebte vollkommen zu unterdrücken.
Wir haben mit ihnen überlegt: Was kommt auf euch in den nächsten Tagen zu? Was könnte euch helfen? Wie könnt ihr euch gegenseitig unterstützen? Wie könnt ihr eurer Trauer Ausdruck geben? Wie geht es in der Schule weiter? Zuerst einmal müssen Überlebende versuchen zu begreifen, was passiert ist. Danach gilt es, eine positive Vorstellung zu entwickeln, wie es weitergehen könnte und wie es möglich ist, in den Alltag zurückzukehren, wieder einen normalen Schlafrhythmus zu finden, regelmäßig zu essen und zu trinken.
Meißner: Die Unsicherheit, ob es hilfreich ist, so direktiv vorzugehen, war groß. Wir sind als Psychologen geschult, erst einmal zuzuhören. Das ist wichtig, aber nicht nur. Derjenige, der hilflos ist, will an die Hand genommen werden. Er will erleben, dass jemand da ist, der weiß, wie es weitergehen könnte.
Meißner: Angst, Wut, Trauer, Verwirrung, wie so etwas passieren kann, Schuldgefühle, Vorwürfe und Scham, etwas unterlassen oder nicht richtig gemacht zu haben.
Meißner: . . . der braucht mehr als nur Unterstützung. Man muss erst einmal in seiner Vorstellung mit ihm üben, das Stockwerk, auf dem es passiert ist, wieder zu betreten.
Meißner: Das war wenig hilfreich. Denn je länger man nicht zurückkehrt, desto schwerer wird die Rückkehr. Vermeidung erhöht die Ängste.
Meißner: Ja. Wenn man aber die Betroffenen zwingt, darüber zu reden, kann es auch den gegenteiligen Effekt haben. Man braucht Geduld.
Meißner: In Klassen von 30 Schülern reden einige. Andere hören zu und haben auch etwas davon.
Meißner: Während der ersten 14 Tage waren wir im akuten Einsatz. Wir haben die fünf am stärksten betroffenen Klassen betreut. In einer Klasse waren zwei Schüler durch die Tür hindurch erschossen worden. Sie sind vor den Augen der anderen verblutet. In einer anderen Klasse war eine Lehrerin erschossen worden. Nach zwei Wochen haben Psychotherapeuten die Überlebenden langfristig betreut.
Meißner: Nach einem Attentat gibt es drei Phasen: Die Fürsorge für die Überlebenden direkt danach, die Nachsorge für diejenigen, die erst später Symptome zeigen oder Traumatherapie brauchen und die Vorsorge, beispielsweise: Wie kann die Schule sicherer werden? Reicht ein Eingang, der überblickbar ist? Müssen die Klassenzimmer so geschlossen werden können, dass niemand hineinstürmen kann? Welche Ansprechpartner stehen zur Verfügung, wenn sich Mitschüler um andere Sorgen machen oder bedroht fühlen?
Meißner: Wir wissen aus Erfahrung, dass solche Erlebnisse wie der Amoklauf von Erfurt Jahrzehnte nachwirken. Man muss davon ausgehen, dass die Gefühle, die damals da waren – der Schmerz, die Wut und die Ängste – wieder hochkommen.
Meißner: Vielen wird wichtig sein, gemeinsam mit anderen Betroffenen der Toten zu gedenken. Es ist eine Stärkung, nicht allein zu sein. Andere wollen keine Gedenkfeier und nur ihre Ruhe. Dann gibt es die Extreme: Manche können das Erlebte nie ruhen lassen. Andere vermeiden jede Erinnerung daran. Als Psychologe halte ich beides für wenig hilfreich.
Meißner: Es ist wichtig, nicht nur auf den Schmerz und das Entsetzliche zu blicken, sondern sich zu fragen: Was hat sich seither entwickelt? Und so verrückt es auch klingt: Was habe ich davon gewonnen? Was hat sich in meinem Leben relativiert, weil ich damals erfahren habe, was mir entrissen worden ist? Was ist jetzt wichtig in meinem Leben? Und auch: Was hat sich insgesamt getan?
Meißner: Ja, früher war man davon überzeugt, bei uns in Deutschland passiere so etwas nicht. Diese Einstellung hat sich seit den Amokläufen von Erfurt, Winnenden, Ansbach, Coburg und anderen als Fehleinschätzung erwiesen. Wenn früher jemand geschrieben hat „Morgen geht in der Schule eine Bombe hoch“, hat man das als Unsinn abgetan. Heute wird die Schule evakuiert und die Polizei geht der Sache auf den Grund.
Meißner: Eine Menge. An vielen Schulen wurden Mobbinginitiativen eingeführt. Krisenteams aus Schulpsychologen und Lehrern kümmern sich bei Bedarf auch um einzelne Schüler. Verunglückt jemand beim Sportunterricht, fällt ein Lehrer während des Unterrichts tot um oder kommt ein Schüler nach einem Suizidversuch in die Schule zurück, dann helfen sie dem Einzelnen und der ganzen Klasse. Schulen ist eine neue Aufgabe zugewachsen: Sie sind nicht nur für die kognitive Entwicklung, sondern auch für das sozial-emotionale und psychische Wohl der Kinder hilfreich. Sie bieten mittlerweile etwas an, was Eltern und Freunde, die das unverzichtbare soziale Netz bilden, in manchen Situationen nicht anbieten können.
Meißner: Am wichtigsten ist es, mit den Schülern in Kontakt zu stehen und zu wissen, was in ihnen vorgeht. Der Secret Service hatte bereits 2002 in einer Studie 37 Amokläufe in den USA untersucht und herausgefunden: Es gibt kein vorhersagbares Täterprofil. Aber: Fast alle Täter hatten eines gemeinsam.
Meißner: Viele teilen vorher im Internet mit, was sie vorhaben. Wir müssen Mitschüler ermutigen, ihr Wissen mit Erwachsenen zu teilen. Die meisten fühlten sich gemobbt. Wir müssen Mobbingprozesse stoppen. Fast allen gemeinsam ist die Perspektivlosigkeit, die mit ihrem familiären Umfeld, den Freunden, der Schule und dem eigenen Selbstbild einhergeht. Sie sind meist suizidal. Sie kalkulieren ein, dass sie erschossen werden. Gleichzeitig dominiert das Gefühl, Rache nehmen zu müssen. Fast immer sind es Jungen. Mädchen richten ihre Aggression eher gegen sich als gegen andere. Die meisten Attentäter sehen keinen Ausweg mehr. Sie erachten ihr eigenes Leben für nicht mehr lebenswert und wollen gleichzeitig andere auch für ideologisch verrückte Vorstellungen, die ihnen in diesem Moment für lohnenswert erscheinen, umbringen. Wir müssen Perspektiven aufzeigen.
Meißner: Wir müssen aufpassen, dass junge Flüchtlinge aufgrund misslungener Integration und ihrer Fluchterfahrung nicht ebenfalls in der Perspektivlosigkeit landen. Die Prävention dafür ist noch in den Anfängen. Die Ängste sind nicht unberechtigt. Sie können aber zu falschen Schlüssen führen. Wir müssen uns intensiv mit den Jugendlichen beschäftigen.
Meißner: Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten Amokläufer ihre Vorgänger nachahmen: von der Kleidung bis zur Vorgehensweise. Nachahmung ist auch ein Grund, warum es seither immer wieder Amokläufe in Deutschland gab. Nach einem Amoklauf wie dem in Erfurt gibt es zum Teil Hunderte von Bedrohungssituationen in dem jeweiligen Bundesland. Wir wissen nicht, wie viele Amokläufe seither verhindert worden sind. Prävention ist leider nicht messbar.
Was sich seit dem Amoklauf von Erfurt getan hat
In Würzburg setzt sich das „Forum Eltern Lehrer Schüler“ (FELS)für ein gutes Miteinander aller an Schule Beteiligten ein. Das Forum diente zusammen mit der Organisation ISPA (International School Psychology Association) als organisatorische Basis in Europa für Kurse, in denen Schulpsychologen auf das Krisenmanagement in Schulen vorbereitet wurden.
In Bayern gründete die damalige Kultusministerin Monika Hohlmeier nach dem erfolgreichen Einsatz in Erfurt das Krisen- und Bewältigungsteam bayerischer Schulpsychologen (KIBBS).
2010 hat Bernhard Meißner gemeinsam mit Schulpsychologen aus Baden-Württemberg, den Niederlanden und den USA die Stiftung ESPCT (European School Psychology Centre for Training) ins Leben gerufen. Ein Team von 20 Trainern hat bislang 1 500 Schulpsychologen in 22 europäischen Ländern ausgebildet. Das Ziel der Stiftung: Krisenmanagement (ähnlich wie in Bayern) an europäischen Schulen zu etablieren.
Die Idee: Ein Schulkrisenteam (mit Beratungslehrern, Psychologen, Religionslehrern, Sicherheitskräften und Schulleiter) soll, angeleitet von einem zentralen Einsatzteam, bei Todesfällen, Unfällen oder anderen traumatisierenden Ereignissen, die Einzelne erlebt haben, selbst in der Lage sein, sich um die Betroffenen zu kümmern.
Der Würzburger erhielt 2016 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Er hat mittlerweile bei zahlreichen Einsätzen Betroffene betreut. akl