„Das hier ist mein Organspendeausweis“, sagt der Mann mit den wachen blauen Augen. Aber es ist mehr als ein Satz. Diese Worte stehen auch für das Schicksal von Heiner Röschert aus Eibelstadt (Lkr. Würzburg) und sie erklären auch, warum der 60-Jährige ein unterfränkisches Netzwerk Organspende gegründet hat, das er dieser Tage vorstellen wird und mit dem er auch erreichen will, dass den Spendern mehr Dank zuteilwird. 2011 waren Röscherts Kinder Felix (Jahrgang 1986) und Pia (Jahrgang 1984) bei einem Autounfall an Heiligabend ums Leben gekommen. Felix, der Gesundheits- und Krankenpfleger am Uniklinikum Würzburg war, besaß einen Organspendeausweis.
Dank diesem konnten fünf seiner Organe anderen Menschen helfen, manch einem hat er damit vielleicht das Leben gerettet. Die Empfänger kennt Heiner Röschert nicht. Das verhindert in Deutschland das geltende Transplantationsgesetz, das Anonymität vorgibt, anders als beispielsweise in den USA. Über die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist es allerdings möglich, sich in einem anonymisierten Brief an die Empfänger zu wenden, falls diese damit einverstanden sind. Auch Röschert hat das getan, aber keine Antwort erhalten. „Noch nicht“, betont er. „Das braucht Zeit.“
Vom Erfahrungsaustausch werden alle profitieren
Das Schicksal hat Heiner Röschert geprägt, in einem Netzwerk möchte er nun Angehörige von Organspendern und Empfänger in Unterfranken zusammenbringen. Die Idee hatte er im vergangenen Jahr, nun möchte er sie umsetzen, sagt der Rentner. Ein erstes Treffen wird 26. April um 18.30 Uhr stattfinden, Angehörige von Organspendern und Empfängern sind dazu in das Selbsthilfehaus der Stadt Würzburg in der Scanzoistraße 4 eingeladen, um sich über das Netzwerk zu informieren und sich kennenzulernen. Vom gegenseitigen Erfahrungsaustausch, der innerhalb des Netzwerks stattfinden soll, werden alle profitieren, sagt er, und hätte es eine solche Gemeinschaft damals bereits gegeben, so findet er heute, hätte ihm das ungemein geholfen.
Heiner Röschert wirkt stark, gefasst.
Man sieht ihm sein Schicksal nicht an. Nur zwei Mal während des Gesprächs ist seine Stimme brüchig, vielleicht ist er auch nur heiser. Er spricht offen über die Nacht, als seine Kinder starben, über die Zeit danach, die sich niemand, der nicht einen ähnlichen Schicksalsschlag erlebt hat, vorstellen könne. Am Anfang musste er behördliche Regularien erledigen. Es war eine fast mechanische Phase seines Lebens, in der er einfach nur funktioniert habe. Die Organisation der Trauerfeier oder auch die Abmeldung der Wohnungen seiner Kinder zählt er dazu, aber auch das Verfahren gegen die Unfallverursacher, die beide verurteilt wurden. Auch in die Trauerarbeit mit den Schulkindern, deren Klassenlehrerin Tochter Pia gewesen war, war Heiner Röschert eingebunden. „Es ist unglaublich, was der menschliche Körper aushält“, sagt er rückblickend.
Beim Thema Organspende wird Röschert wütend
Heiner Röschert berichtet von guten Tagen und jenen, an denen er in sich gehen und zur Ruhe kommen muss und alles um ihn herum abschaltet. Auch heute noch. Wenn es um das Thema Organspende geht, wird er wütend. „Ich finde es schlimm, dass die medizinische Möglichkeit zur Organspende seit mehr als 40 Jahren besteht, aber wir sie immer noch viel zu wenig nutzen“, sagt er, und seine Entrüstung ist deutlich zu hören. Er könne nicht nachvollziehen, warum Organe verbrannt werden, anstatt damit Leben zu retten. „Jeden Tag sterben drei Menschen, die auf der Warteliste für ein neues Organ stehen“, sagt Röschert.
Mehr als 10.000 Menschen in Deutschland befinden sich auf dieser Warteliste, knapp 8000 warten auf eine Niere. 19 Menschen spendeten 2015 in Unterfranken ihr Organ, im Vorjahr waren es 15. Im günstigsten Fall – bei sieben maximal möglichen Spendeorganen – hätten damit in zwei Jahren 238 Menschen dank eines neuen Organs überlebt oder ihren Gesundheitszustand maßgeblich verbessern können. In seiner Freizeit nimmt Röschert auch an Veranstaltungen der DSO teil, die in Deutschland für die Koordination der postmortalen Organspenden zuständig ist, und die Uniklinik bei ihrer Aufklärungsarbeit, informiert und berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Angehöriger. Dafür reist er durch ganz Bayern, so ist er am 4. Juni als Podiumsteilnehmer beim Tag der Organspende in München.
Den Grund für die schleppende Bereitschaft zur Organspende sieht Heiner Röschert in einer nicht hinreichenden Aufklärung über den Hirntod, der in Deutschland neben einer Zustimmung die Voraussetzung für eine Spende ist. Die Menschen hätten darüber bisweilen falsche Vorstellungen, teilweise spiele auch der Glaube eine Rolle. Er erinnert sich an eine Betroffene, die auf kein Verständnis in ihrer Gemeinde und dem Verwandtenkreis stieß, als sie die Organe ihrer verstorbenen Tochter spendete.
Über Organspende muss besser informiert werden
Es müsse noch mehr Aufklärung geleistet werden, über Organspende informiert und Vertrauen dahingehend geschaffen werden. Das möchte er auch mit der Gemeinschaft für Angehörige von Organspendern und Empfängern, deren endgültiger Name noch nicht feststeht. „Wir haben gemerkt, dass man mehr bewirken kann, wenn Angehörige und Transplantierte berichten“, sagt er. Für Angehörige ist eine Gemeinschaft besonders wichtig, „hier muss man nicht sagen, wie es einem geht, da muss man nicht fragen“. Sie können einander Halt geben, hier sollen sie Unterstützung erfahren und Informationen erhalten. Auch Ärzte und Psychologen beteiligen sich an dem Netzwerk, das von Röschert ins Leben gerufen wurde und das er rein ehrenamtlich betreut. Darunter ist auch Prof. Ingo Klein von der Uniklinik in Würzburg, einer von zwei unterfränkischen Transplantationsbeauftragten. Es handelt sich um keinen Verein mit Mitgliedsbeiträgen, will er klargestellt wissen. Die Gemeinschaft ist absolut kostenfrei.
In einem Chat, der auf der Internetseite des Netzwerks eingerichtet wird, sollen sich Betroffene außerdem an Experten wenden können und viele Informationen rund um das Thema Organspende bekommen. Auch für die Organempfänger kann der Kontakt zu Angehörigen von Spendern wichtig sein. Viele hätten jedoch Hemmungen, sich an die Hinterbliebenen der Spender zu wenden, weil sie fürchteten, neue Wunden aufzureißen, so Röschert. Auch fühlten sie sich oft nicht wohl in ihrer Haut, wenn sie von ihrem glücklichen Leben sprächen, während der Grund für ihr Überleben, der Spender, tot sei. „Ich will das aber hören!“, hat Heiner Röschert einer Organempfängerin bei einem von der DSO organisierten Treffen gesagt.
Dank einer Spende hat sie überlebt und ist inzwischen Mutter zweier Kinder. Ein gespendetes Organ hat somit drei Menschen das Leben ermöglicht. Sieben Organe können einem Spender maximal explantiert werden, deren Zustand letztlich erst bei der Entnahme festgestellt wird. Eine Spende ist unabhängig vom Alter möglich, auch das wissen viele nicht, sagt Röschert. Dabei werde viel Aufklärungsarbeit seitens der Transplantationszentren und Krankenhäuser geleistet.
Das Juliusspital Würzburg und das Uniklinikum beispielsweise sind mehrfach mit dem Bayerischen Organspendepreis ausgezeichnet worden, der denjenigen Krankenhäusern verliehen wird, die sich im Vorjahr „besonders um das Thema Organspende verdient gemacht haben“. Dazu zählen besondere Schulungen des Krankenhauspersonals und Betreuung der Angehörigen. In Röscherts Netzwerk sollen auch Ärzte ihre Erfahrungen miteinbringen und davon berichten. Insgesamt werden sich die Themen nicht nur um Bewältigung von Tod, Trauer und Krankheit drehen, auch Freude und Dankbarkeit werden eine wichtige Rolle spielen.
Die Beschäftigung mit dem Tod nimmt die Angst davor
Ein Organspendeausweis stellt auch für die Angehörigen eine Erleichterung dar, sagt Heiner Röschert. „Man befindet sich im Ausnahmezustand und muss dann so eine Entscheidung treffen.“ Felix habe durch seinen Beruf ein besonderes Bewusstsein für die Thematik gehabt. Sogar an seine Freunde hatte er die Ausweise verteilt. Sie sollten nichts verschieben, so wie es viele tun. Röschert rät dazu, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, dann nimmt das die Angst“, sagt er.
Zum Starttermin am 26. April hat er schon einige Zusagen. Bei dem Treffen, bei dem es ihm „vor allem um das Zusammenführen der beiden Parteien aus Spendern und Empfängern“ geht, erhofft er sich auch Unterstützer für den Aufbau der entsprechenden Webseite zu finden und einen Stellvertreter mit ins Boot zu ziehen. „Ich brauche unbedingt Helfer“, sagt er, der aktuell alles alleine organisiert. Er wolle nicht immer vorne dran stehen, sondern auch selbst Teil der Gemeinschaft werden. In seinem Leben soll sich nicht immer alles um Organspende drehen. „Es gibt viele schöne Dinge, die man unternehmen kann.“
Die Frage, ob er der Meinung sei, dass sein Sohn in den Menschen weiterlebe, denen er seine Organe gespendet hat, verneint er. „Meine Kinder sind auf dem Friedhof beigesetzt, dort finde ich sie auch. Die körperliche Hülle existiert nicht mehr, aber der Rest bleibt.“ Und über das, was bleibt, finden fremde Menschen zusammen. Angehörige und Spendenempfänger. Die einen, die mit dem Tod konfrontiert wurden und die, denen die Toten die Chance auf ein neues Leben geschenkt haben. „Der Dank sollte nicht den Angehörigen gelten, sondern immer zuerst den Spendern.“
Netzwerk Organspende
In Deutschland warten laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation mehr als 10 000 Menschen auf ein neues Organ, 2015 wurden 3083 transplantiert. Die Stiftung Eurotransplant ist zuständig für die Zuteilung der Organe nach Deutschland, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich, Ungarn, Kroatien und Slowenien. Ein gespendetes Organ, das in Deutschland entnommen wird, kann also auch einem Empfänger in einem der genannten Länder zugutekommen.
Das Netzwerk Unterfranken von Heiner Röschert trifft sich am Dienstag, 26. April, um 18.30 Uhr im Selbsthilfehaus der Stadt Würzburg in der Scanzonistraße 4. „Über zahlreiche Teilnehmer würde ich mich sehr freuen“, sagt Röschert. Das Logo des Netzwerks zeigt eine sterbende Sonne, die den kleinen Sonnen den fehlenden siebten Strahl spendet.