
Wer 1700 verschiedene Arzneimittel im Lager hat, wer auf insgesamt 66 500 Packungen zurückgreifen kann – der braucht sich um die Medikamentenversorgung der Patienten keine Sorgen zu machen. Müsste man meinen. Dr. Mareike Kunkel leitet an der Würzburger Uniklinik die Apotheke, die jeden Tag bis zu 200 kleine und große Kisten mit Medikamenten füllt und damit über 70 Abteilungen beliefert. Apothekenpflichtige Arzneimittel, Röntgenkontrastmittel, Infusionen, Gerinnungsfaktoren, Chemikalien und Diagnostika – der Bedarf an der 1600-Betten-Uniklinik ist riesig, das riesige Magazin muss entsprechend gut gefüllt sein.
Lieferengpässe mehren sich: „Es ist eine Katastrophe“
Was nicht vorrätig ist in der Apotheke am Rande des Gewerbegebiets Ost, gleich hinterm Aldi, wird tagesaktuell bestellt. Auf die Frage aber, ob sie manchmal ein Medikament nicht besorgen, schlicht nicht auftreiben kann, sagt die Pharmazeutin sehr deutlich und vehement: „Ja! Ja, es ist eine Katastrophe.“ Es mangelt ihr und den anderen 13 Apothekern des Maximalversorgers nicht an Geschick. Es liegt nicht an fehlenden Kontakten und ist auch keine Geldfrage. Es liegt daran, dass ein bestimmtes Medikament, das vielleicht schon lange auf dem Markt und bewährt ist, nicht zur Verfügung steht.
Zytostatika, Antibiotika, Herzmedikamente, Impfstoffe: nicht lieferbar, deutschlandweit, oft auf unbestimmte Zeit.
400.000 Bestellungen jedes Jahr
Seit März ist Mareike Kunkel Chefapothekerin an der Würzburger Universitätsklinik, mit 35 Jahren wohl die jüngste in Deutschland auf solch einem Posten. Sie führt ein Team von 60 Mitarbeitern, sie verantwortet die Medikamentenausgabe und muss die schnelle und zuverlässige Versorgung der Stationen mit Arzneimitteln garantieren. 400 000 Bestellungen arbeitet die Uniklinik-Apotheke im Jahr ab. Kunkel beaufsichtigt die Herstellung von fast 1300 Augentropfen, 6200 Zäpfchen, 1400 Kilogramm Salbe, 13 200 Kapseln und 30 000 sterilen Einzelflaschen pro Jahr – und die dazugehörige apothekeneigene Qualitätskontrolle. Sie bereitet mit ihrem Team jeden Tag 200 Infusionen für die Chemotherapie von Krebspatienten zu, der Bedarf wird von Jahr zu Jahr größer. Und weil die Uniklinik Arzneimittelinformationsstelle der Bayerischen Landesapothekenkammer ist, ist sie außerdem Ansprechpartner für Apotheker aus ganz Bayern. Die größte Herausforderung von Kunkel aber ist die Liefersicherheit.
Fasziniert von der Wirkung der Arznei
Für Pharmazie hat die 35-Jährige sich entschieden, weil sie in der Schule in Naturwissenschaften besser als in Sprachen war und ihr Chemie und Biologie mehr Spaß machten. Außerdem hatte sie schon immer fasziniert, wie schnell und offensichtlich manche Medikamente wirken. Eine Tablette – und eine halbe Stunde später sind die Kopfschmerzen weg? Grandios! Eine Dosis Spray – und schon ist die Nase frei? Faszinierend. Mareike Kunkel freute sich nicht einfach über die Wirkung. Sie wollte wissen, was da im Körper passiert.
Für den Arbeitsplatz Krankenhaus hat sich die Leidersbacherin während des Studiums in Würzburg entschieden, weil sie immer schon mehr tun wollte, als in irgendeiner öffentlichen Apotheke Schnupfenmittel und Blutdrucksenker zu verkaufen. Während der Famulatur in einer kleinen Landapotheke hatte sie Medizini-Hefte gestempelt. Nicht gerade die Herausforderung, die sie sucht.
Die zweite Famulatur an der Klinik Aschaffenburg bot da schon mehr: Die Pharmaziestudentin nahm an Stationsbegehungen teil, bekam die unterschiedlichen Beschaffungsmöglichkeiten mit den Konditionen einer Krankenhausapotheke mit und lernte die Herstellung von Zytostatika, den wichtigen Krebsmedikamenten, kennen. Nach dem Praktischen Jahr ging Kunkel zur Promotion nach Mainz: Dort arbeitete sie parallel zu ihrer Forschung gleich in der Krankenhausapotheke, einer der modernsten in Deutschland, mit, machte den Fachapotheker für Klinische Pharmazie und Arzneimittelinformation – und ging wieder mit auf Station. Mareike Kunkel schätzt den direkten Austausch mit den Ärzten. Und sie mag den Kontakt zu den Patienten: „Da kann ich meine soziale Ader ausleben.“
In Mainz arbeitete sie in der Neurochirurgie und Herz-Thorax-Gefäß-Chirurgie. Ihre Doktorarbeit schrieb sie unter anderem darüber, ob und wie sich die Betreuung von Patienten durch einen Klinikapotheker auswirkt. „Die Medikamente sollen schließlich nicht in der Schublade landen“, sagt Kunkel. Ihre Lösung: Sie erklärte den Patienten nach ihrer OP ihre Arzneimittel anhand eines Medikationsplans mit Bildern.
Frage an die Hersteller: „Wie sorgen Sie dafür, dass Sie lieferbar sind?“
Jetzt, zurück in Würzburg, ist ihre Hauptaufgabe, mit Firmen zu verhandeln und dafür zu sorgen, dass die Universitätsklinik zu günstigen Konditionen mit hochwertigen Arzneimitteln versorgt ist – möglichst ohne Lieferengpässe. Kunkels Standardfrage an die Pharmahersteller: „Wie sorgen Sie dafür, dass sie lieferbar sind?“ Nirgendwo sonst ist es so überlebenswichtig, dass die Logistikkette vom Hersteller bis zum „Kunden“, bis zum Krankenbett, funktioniert. Genau das ist das Problem. „Die Lieferproblematik hat stark zugenommen“, sagt Kunkel. „Und es betrifft Arzneimittel, bei denen es keine Alternative gibt.“
Immer häufiger finden die Apotheker keinen Ersatz
Selbst Maximalversorger wie die Universitätsklinik stehen machtlos da: Tonnen von Arzneimitteln werden in Deutschland hergestellt, fast 50 000 verschiedene verschreibungspflichtige Medikamente sind zugelassen. Doch seit zwei, drei Jahren gibt es gängige, teils überlebenswichtige Präparate plötzlich einfach nicht mehr. „Eine Katastrophe“, sagt die Chefapothekerin. In vielen Fällen können die Pharmazeuten Alternativen finden, auf wirkstoffgleiche Medikamente wechseln. Doch immer häufiger gibt es schlicht keinen Ersatz.
Melphalan zum Beispiel. Ein Standard-Mittel, das seit 50 Jahren für die Behandlung von Knochenmarkkrebs unentbehrlich ist und in den vergangenen Jahren immer wieder ausging oder stark rationalisiert wurde. Im Sommer 2015 fehlte es wochenlang. Der italienische Hersteller begründete den Ausfall mit „Produktionsschwierigkeiten“. Je weniger Anbieter es für ein Mittel gibt, desto gravierender sind die Folgen, wenn eine Produktionsstätte ausfällt. „Manche Wirkstoffe werden weltweit nur noch in einem Werk produziert“, sagt Kunkel. „Wenn dann dort der Strom über längere Zeit ausfällt, es Qualitätsschwierigkeiten gibt und eine Charge verunreinigt ist, dann wird es kritisch.“ Lagerbestände? „Die haben die Hersteller oft nicht mehr ausreichend“, sagt Kunkel. Medikamente kühl und einwandfrei zu lagern, ist teuer.
Problematisch wird es, wenn Patente auslaufen
Bei den Medikamenten, die bedrohlich knapp werden, geht es fast immer um Mittel, die lange auf dem Markt sind und an denen die Hersteller nicht mehr viel verdienen. Seit neun Jahren dürfen Krankenkassen Rabattverträge mit Pharmafirmen aushandeln, für Wirkstoffe werden Wettbewerbe um die besten Konditionen ausgeschrieben. Die Folge: Die Preise für Standardmedikamente, in Deutschland generell schon niedrig, sind tief gefallen. Irgendwann streichen die Hersteller Präparate, bei denen das Patent abgelaufen ist und die kaum Einnahmen bringen, aus dem Sortiment. Andere Medikamente verkaufen die Hersteller lieber teuer ins Ausland.
Liste der Mittel, die nicht lieferbar sind
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) führte eine Listeüber verschreibungspflichtige Medikamente, die in Deutschland nicht zu bekommen sind.
Aktuell sind dort 27 Antibiotika, Narkosemittel, Hormone oder Infusionslösungen vermerkt. Die Liste beruht auf freiwilligen Informationen der Hersteller, eine gesetzliche Meldepflicht gibt es nicht. „Die Lage ist noch viel dramatischer“, sagt Kunkel. Voraussichtlich ab August wird zum Beispiel Etopophos ein ganzes Jahr lang nicht verfügbar sein. Das Medikament wird bei der Chemotherapie verschiedener Tumore eingesetzt. Der Wirkstoff Etoposid kommt aus der Wurzel des immergrünen amerikanischen Maiapfels und unterliegt den internationalen Bestimmungen zum Handel mit gefährdeten Arten.
Das Knochenmarkmittel Melphalan importierte die Würzburger Uniklinik im vergangenen Jahr teuer aus dem Ausland. Für seltene Wirkstoffe gibt es ein Notdepot. Was die nicht lieferbaren Mittel angeht? Mareike Kunkel und ihre Kollegen müssen telefonieren, handeln, Restbestände ergattern – und dafür sorgen, dass die Halbkommissionier-Automaten im Lager nicht zu oft ins Leere greifen.