Als Judith Fischer im Juni 1989 am Grenzübergang Rudolphstein bundesdeutschen Boden unter den Füßen fühlte, zitterten ihr die Knie vor Aufregung. Eine monatelange Odyssee durch die Schikanen des DDR-Staatsapparats lag hinter ihr und ihrem Ehemann Hans-Jürgen. Ihre Erinnerungen erzählen ein Stück deutsch-deutscher Geschichte – und münden in ein Happy End.
Es war im Juni 1988 als sie sich zum ersten Mal begegnen. Hans-Jürgen Fischer, ein junger Bankkaufmann aus Ochsenfurt, ist mit Vereinskameraden am ungarischen Plattensee unterwegs. Judith, die Hotelfachfrau aus Zschopau, verbringt dort ihren Urlaub. Die Perestroika-Politik des russischen Staatschefs Michail Gorbatschow hatte den DDR-Bürgern Reiseerleichterungen ins kommunistische Ausland beschert. Im Innern der Deutschen Demokratischen Republik hält die Honecker-Regierung eisern an der Macht fest.
Ein paar Tage verbringen Judith und Hans-Jürgen gemeinsam, und sie verlieben sich ineinander. Dann gehen ihre Wege wieder auseinander, allerdings nicht für lange. Schon wenige Tage nach ihrer Rückkehr, können die beiden miteinander telefonieren. Vom Apparat einer befreundeten Ärztin aus, weil es nicht abgehört wird. „Meine Familie habe ich herausgehalten“, erinnert sich Judith Fischer. Um ihnen Schwierigkeiten mit der Staatssicherheit zu ersparen. Kontakte ins „nicht-sozialistische Ausland“ hätten schnell deren Aufmerksamkeit geweckt.
Hans-Jürgen und Judith wählen Ost-Berlin für ihre ersten Treffen. Sie hat dort in einem Hotel gearbeitet und gibt vor, Freundinnen zu treffen. Er darf als Bundesbürger mit einem Tagesvisum in die Hauptstadt der DDR einreisen.
Trotzdem erregt das Pärchen die Interesse der staatlichen Aufpasser. „Die Grenzsoldaten haben gemerkt, dass da was läuft“, erinnert sich Hans-Jürgen Fischer, „schon allein an den Stempeln im Pass“. Als er wenig später ein offizielles Visum für den Besuch in Judiths Heimat beantragt, sind die beiden endgültig im Überwachungsapparat der Stasi angekommen. Das geht auch aus den Akten hervor, die sie Jahre später anfordern.
Seine Freundin macht sich inzwischen ernste Gedanken über eine gemeinsame Zukunft. „Ich hab' ihm von Anfang an versucht, klar zu machen, was auf ihn zukommt, wenn er mich wiedersehen will“, erzählt sie. Hans-Jürgen will sie wiedersehen; will gar, dass sie zu ihm in den Westen zieht. Eine Ausreise in die BRD wäre aber erst nach der Hochzeit möglich – und auch das geht nur mit staatlicher Erlaubnis. „Ich hab ihm klipp und klar gesagt, dass das Jahre dauern kann“, erzählt Judith Fischer. Ihm ist das egal.
Blauäugig sei er gewesen, erzählt Hans-Jürgen Fischer heute. Die Grenzkontrollen, die Gängelung durch die Behörden, die Bespitzelung, von der Judith ihn gewarnt hatte – „Für mich war das irreal, wie in einem Theaterstück“, sagt er. Dafür fängt für Judith der Ärger erst richtig an als sie den Eheschließungsantrag stellt.
Bekannte unterstellen ihr, sie habe sich nur einen Mann aus dem Westen geangelt, um „rüber“ zu kommen. Von ihren Vorgesetzten im Hotel wird sie geschnitten, in den letzten Winkel verbannt, um nicht in Kontakt mit Gästen zu kommen. An das Knacken in der Telefonleitung haben sich die beiden inzwischen gewöhnt. Manchmal machen sie Witze darüber – „Hörst du, jetzt hört die Stasi wieder mit.“ Mit Politik haben beide damals nichts am Hut.
„Wir wollten zusammen sein, alles andere war uns egal“, sagt Judith Fischer. Und der Staat tat alles, um das verhindern. In den Westen darf sie nur noch vom Postamt aus telefonieren. Mitunter lässt man sie dort eine Stunde lang warten, bis die Leitung freigegeben wird. Visa, die sie für ihren Verlobten beantragt, werden erst zugestellt, als sie bereits abgelaufen sind. Bei der Fahrt über die Grenze wird Jürgen noch strenger kontrolliert als bisher. Einmal macht man ihm gar das Angebot, in die DDR überzusiedeln. Einen Arbeitsplatz in der Sparkasse von Zschopau habe man bereits für ihn. Stasi-Beamten versuchen derweil, Judith unter Druck zu setzen. Ob sie auch an ihre Familie denke, die sie zurücklassen muss? Ob sie denn wisse, worauf sie sich einlasse? Obdachlos unter einer Brücke werde sie landen, warnt man sie.
Sie lässt sich nicht beirren, wartet weiter. Dann, überraschend schnell – nach nur einem Vierteljahr – erlauben die Behörden die Eheschließung. Ein weiteres Etappenziel ist erreicht. Aus der großen Feier mit Freunden, die Hans-Jürgen geplant hat, wird jedoch nichts. Nur seine Eltern und ein Bruder als Fahrer dürfen mit nach Zschopau reisen, den übrigen Freunden und Verwandten verwehrt die DDR die Einreise. Nur ein Freund aus Ochsenfurt schafft das scheinbar Unmögliche. Es schaltet den Bundestagsabgeordneten Walter Kolbow ein. Der vermittelt. Das Visum wird erteilt. Sie heiraten schließlich in kleinen Kreis. Damit ist Judith die Ausreiseerlaubnis zwar nicht mehr zu nehmen, am Ziel sind die beiden aber noch lange nicht. Mit der Hochzeit werden Judith Fischer formell die Bürgerrechte entzogen. Sie muss ihr Vermögen auflösen und ihren Personalausweis abgeben. Stattdessen erhält sie einen „Identitätsnachweis“. Offiziell ist sie nun staatenlos. Sie muss sich bereit halten, jederzeit innerhalb von 48 Stunden das Land zu verlassen. Wann das sein wird, erfährt sie nicht.
Inzwischen hat die nervliche Belastung an der jungen Frau gezehrt; die Gewissheit, dass es für sie ein Abschied für immer sein wird. Die Mutter würde sie erst wieder sehen, wenn die mal in Rente geht. Hält ihre Beziehung dieser Belastung stand? Nach sechs Wochen trifft die erlösende Nachricht ein. Zwei Tage später darf Hans-Jürgen sie abholen. Judith Fischer erinnert sich, wie sie im Juni 1989, nervlich fast am Ende, am Grenzübergang stand. Ein bayerischer Grenzbeamter erschien ihr damals als rettender Engel. „Mädle, bleib ruhig, jetzt bist du sicher“, hatte er zu ihr gesagt und in aller Ruhe den vorläufigen Ausweis ausgestellt.
Ihre Schwiegermutter nimmt sie später an die Hand und begleitet sie auf dem Weg durch die Behörden und Meldestellen. Auch in der Clique ihres Mannes wird sie schnell aufgenommen – „klar waren alle neugierig auf das Mädel aus dem Osten“. Arbeit findet sie sie in einem Würzburger Hotel und zu Hause arbeitet sie nach Feierabend mit ihrem Mann an der gemeinsamen Wohnung.
Von den Umwälzungen, die sich zu dieser Zeit in Ungarn und der Tschechoslowakei anbahnten, nimmt das junge Paar nur am Rande Kenntnis. Erst als Judiths Bruder plötzlich vor der Tür steht, wird ihnen bewusst, was in der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs vor sich geht. In der deutschen Botschaft in Prag hat der sich gemeinsam mit Hunderten anderer Flüchtlinge die Ausreise ertrotzt.
Auch als Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 die sofortige Reisefreiheit für alle DDR-Bürger verkündet, sind Judith und Hans-Jürgen Fischer auf ihrer Baustelle. Erst drei Stunden später erfahren sie davon. Kurz drauf ruft eine Freundin aus Berlin an. „Judith, ich steh' hier auf dem Ku'damm, ich kann's nicht glauben“, schreit sie ins Telefon.
„Ich kann den Moment gar nicht beschreiben“, sagt Judith Fischer heute, „er war unheimlich emotional. Plötzlich hatte ich wieder die Hoffnung, Freunde zu sehen, die ich nie mehr zu sehen erwartet habe.“ Die Mühen, die es sie gekostet hat, zusammen zu kommen, die Steine, die man ihnen in den Weg gelegt hatte – alles war plötzlich weit weg. „Später haben wir darüber gelacht und gesagt ,Wir hätten auch noch ein wenig warten können‘“, erzählt ihr Mann heute.
Ein Sohn und eine Tochter kamen zur Welt. Ihr Leben nahm seinen Lauf. „Jetzt haben wir Silberhochzeit gefeiert, und ich kann immer noch sagen, ich hab es nicht bereut“, sagt Judith Fischer. Es komme ihr kitschig vor, aber: „Es war halt Liebe auf den ersten Blick.“ Die deutsche Einheit ist inzwischen auch in den Köpfen der Menschen Wirklichkeit geworden. Darüber freut sich Judith Fischer, und über das Interesse, das Freunde ihrer persönlichen Geschichte nach wie vor entgegen bringen. Der Unterschied zwischen Ossis und Wessis? Der taugt bei den Fischers heute höchstens noch für einen kurzen Scherz am Küchentisch.