Der 57-jährige Karl Bernhard Lehmann ist Professor für Hygiene in Würzburg und somit ein Mitglied des gehobenen Bürgertums, das auf perfekte Manieren achtet. Doch das Menü, das der Gelehrte im Sommer 1916 einer Gruppe von jungen Mädchen servieren lässt, missachtet den in seiner Gesellschaftsschicht üblichen Komment. Was seine Frau und seine Töchter gekocht haben, sei „wohlschmeckend, sauber und wohlbekömmlich“, beruhigt der Professor die Gäste vor der Mahlzeit, allerdings verstoße es „gegen Vorurteile“.
Das ist nicht übertrieben.
Die Mädchen, Mitglieder der Ortsgruppe des Würzburger Frauenvereins, greifen herzhaft zu, bitten auch gelegentlich um eine zweite Portion. Schließlich ist üppiges Essen, noch dazu mit mehreren Fleischgängen, zwei Jahre nach Kriegsbeginn schon äußerst selten. Was sie gegessen haben, erfahren sie erst anschließend: Es gab Katzenbouillon, Fleisch von jungen Katzen, Pferdefleischlende, Brennnesselspinat und Löwenzahnsalat.
Protest erhebt sich keiner. Alle singen nach dem ungewöhnlichen Mahl „Deutschland, Deutschland über alles!“, schreibt Lehmann in seinen Memoiren. Der Verzehr von seltsamen Lebensmitteln ist in diesem Sommer 1916 geradezu eine patriotische Pflicht, ein Beitrag der „Heimatfront“ zu den Kriegsanstrengungen der Soldaten.
Auch zu Hause beim Professor kommen regelmäßig Pferdefleisch und Katzenfrikadellen auf den Tisch. Das Pferdefleisch („köstlich, wenn das Pferd jung ist“) kauft Lehmann zweimal wöchentlich im Würzburger Schlachthaus, die Katzen stammen aus dem Hygienischen Institut, wo sie zu Versuchszwecken gehalten werden.
Trotzdem hat Karl Bernhard Lehmann häufig Hunger, so wie die anderen Menschen in Deutschland. 20 Kilo nimmt er im Lauf des Krieges ab, denn irgendwann sind alle Institutskatzen verzehrt und von Pferdefleisch allein kann man nicht leben. Die Ernährungslage wird immer katastrophaler, viele Lebensmittel sind nur noch gegen Marken zu bekommen – wenn es überhaupt welche gibt.
„Zu den unzertrennlichen Gefährten des Kriegsgottes gehört von alters her eine hohläugige Gestalt, der Hunger“, schreibt der Würzburger Oberbürgermeister Hans Löffler 1925 rückblickend. Im Ersten Weltkrieg ist er als städtischer Polizeireferent auch für die Versorgung der Bürger mit Lebensmitteln verantwortlich. Notgedrungen wird Löffler nicht nur zum Großeinkäufer; er muss auch Lagerstätten finden – zum Beispiel in den Gewölben unter der Residenz – und für den möglichst gerechten Verkauf sorgen.
Diese kaum lösbare Aufgabe belastet ihn dermaßen, dass er am 3. Juni 1915 in seinem Tagebuch bedauert, dass er, da „unabkömmlich“, nicht einberufen werden kann. Dies wäre, so schreibt er, „in mancher Hinsicht eine Erleichterung und innerlich eine Erlösung“.
Hilflos muss Löffler zuschauen, wie er trotz größter Anstrengungen nicht alle Bürger satt bekommt. In Berlin notiert der Arzt Alfred Grotejahn am 17. März 1916 über die Folgen der Unterernährung in sein Tagebuch: „Die Berliner Bevölkerung bekommt Woche für Woche mehr ein mongolisches Aussehen. Die Backenknochen treten hervor und die entfettete Haut legt sich in Falten.“
Lag der Durchschnittsverbrauch eines Erwachsenen 1913 bei rund 3000 Kalorien am Tag, so fällt die Zufuhr im Lauf des Krieges meist unter 1000 Kalorien. Eine Rolle spielen dabei auch die exorbitant gestiegenen Preise, mit denen die Lohnentwicklung nicht mithält. Im März 1916 schreibt die 21-jährige Würzburgerin Maria Gümbel in einem Feldpostbrief an ihren Mann: „Am allerliebsten wäre es mir, wenn ich nichts mehr essen müsste, weil alles so teuer ist.“
Teuer – und nur noch auf Marken zu bekommen. Für den 1914 geborenen kleinen Sohn Wilhelm ist oft nicht genug zu essen im Haus. Schon am 25. Mai 1915 hat Maria ihrem Mann, der mit den Würzburger Truppen in Frankreich eingesetzt ist, die missliche Lage geschildert: Die Brotmarken für den Mai sind aufgebraucht. Sie selbst kann sechs weitere Tage bis Monatsende ohne Brot, das Hauptnahrungsmittel, irgendwie überstehen. Aber wie soll sie den zweijährigen Wilhelm satt bekommen?
Die Kriegsherren in Berlin hatten sich gründlich verrechnet. Sie haben – wie 1870/71 beim Krieg gegen Frankreich – mit einem schnellen Sieg gerechnet und nicht bedacht, welche verheerenden Auswirkungen es hat, wenn die Gegner sich erfolgreich wehren und aufgrund einer Blockade so potente Lieferanten wie Kanada und Argentinien für Getreide- und Fleischlieferungen jahrelang ausfallen.
Mit dem Kriegseintritt Italiens im Jahr 1915 sind auch Erzeugnisse wie Zitronen und Orangen aus den Geschäften verschwunden. Dann sorgt Trockenheit im selben Jahr noch zusätzlich für einen Mangel an heimischem Gemüse und Kartoffeln; als 1916 die Getreideernte nur mäßig ausfällt, werden Brot- und Mehl knapp.
Der Hunger grassiert.
Die Ausgabe von Lebensmittelmarken kann keine wirkliche Abhilfe schaffen. Meist kommt das Rationierungssystem erst in Gang, wenn die Güter bereits so knapp sind, dass auch Marken keine ausreichende Versorgung der Bürger mehr gewährleisten. Vor Geschäften und städtischen Verteilungsstellen bilden sich lange Schlangen – und nicht immer ist garantiert, dass alle, die anstehen, auch etwas erhalten. Zudem reichen die ausgegebenen Marken oft nicht einmal zum Stillen des größten Hungers aus.
Hans Löffler berichtet von Frauen, die „weinend und kniefällig bittend oder drohend und fluchend“ weitere Marken erbitten – vergebens.
Mit der Einführung der Brot- und Mehlmarken hat am 1. März 1915 die Rationierung begonnen. Bäcker und Konditoren müssen sich umstellen, Kuchen dürfen aus allem Möglichen bestehen, aber kaum noch aus Weizenmehl. Wer mehr als zehn Prozent Mehl verwendet, macht sich strafbar.
Auch beim Brot verschlechtert sich die Qualität spürbar, weil es mit Kartoffeln, Stärkesirup, Mehl aus Bohnen, Erbsen, Mais oder Reis gestreckt werden muss. Brot, das aus mehr als 20 Prozent Kartoffeln besteht, heißt offiziell „Kartoffel-Kriegs-Brot“ („K.K.-Brot“); in der französischen Propaganda dient es als schlagkräftiges Beispiel für die Ernährungsnot der Deutschen.
Zwei fleischlose Tage pro Woche
Der 1. Mai 1916 bringt dann die Einführung der Fleischkarte in Bayern; der wöchentliche Pro-Kopf-Verbrauch ist zunächst auf 800 Gramm festgelegt, sinkt später aber noch weiter. Bereits seit Oktober 1915 gelten in Würzburg zwei fleischlose Tage pro Woche. In den Gastwirtschaften dürfen zudem montags und donnerstags weder Fett noch Speck zur Bereitung von Fleisch- und ähnlichen Speisen verwendet werden.
Der Würzburger Lebensmittelbeauftragte Hans Löffler will den Bürgern seiner Stadt als Fleischersatz Meerestiere verkaufen, doch diese erweisen sich als Ladenhüter. In seinem Bericht über die Kriegsjahre schreibt er: „Wir durften sehr froh sein, dass wir unsere Klippfische, die ziemlich lang bei uns lagerten, wieder nach Norddeutschland absetzen konnten. Einmal versuchten wir, sehr dunkelfarbiges Haifischfleisch zu verkaufen, aber nie wieder.“
Seit Dezember 1915 werden in Würzburg Milchkarten für Kinder und Kranke ausgegeben, ein Jahr später für alle Bewohner. Ab April 1917 darf in Cafés nur noch schwarzer Kaffee serviert werden; der Zucker ist da schon lange zwangsweise durch minderwertigen Süßstoff ersetzt worden.
Um die Milchverteilung besser zu regeln, gründet Hans Löffler 1915 eine städtische Milcheinkaufsgenossenschaft, die ihre Milch am Bahnhof unter die Leute bringt – gegen Marken natürlich – und die ab April 1917 in der Domerpfarrgasse sogar eine eigene Molkerei betreibt.
Ab 1. Mai 1916 werden Lebensmittelmarken für Zucker, Grieß und Graupen, Erbsenmehl und Nudeln ausgegeben. Auch Feinseife und Waschmittel sind jetzt rationiert, wenig später folgt die Zwangsverteilung von Butter, Kartoffeln und Eiern. „Es war nicht selten, dass es an Ware fehlte“, notiert Hans Löffler. „Manche Lebensmittelmarke konnte nur teilweise oder auch gar nicht beliefert werden.“
Im Jahr 1916 bricht der Konsumgütermarkt endgültig zusammen. Auch Schuhe, Stoffe und Kleider sind nun rationiert. Das bedeutet für die ohnehin mit Arbeit überlasteten Frauen, dass alte und zerschlissene Sachen immer wieder geflickt und umgenäht werden müssen. Hinzu kommt das oft stundenlange Anstehen für Lebensmittel. Dies alles freilich, so die Propaganda, sollen die Frauen im freudigen Bewusstsein tun, ihren Beitrag zum Sieg zu leisten; die Hausarbeit wird zu einer geradezu staatstragenden Tätigkeit aufgewertet.
Je länger der Krieg dauert, desto verzweifelter werden die Maßnahmen der Behörden. Die Gastwirtschaften schenken dünnes „Kriegsbier“ aus, aber auch dieses kann laut Löffler nicht mehr nach Belieben genossen werden. Ab 1917 gibt es mittags höchstens ein und abends nicht mehr als zwei Glas Bier; zwischen 13 und 17 Uhr gar keines.
Der allgemeine Hunger breitet sich dermaßen aus, dass die Würzburger Stadtverwaltung im Juni 1916 im Bierlokal „Bauchskeller“ im Mainviertel eine „Volksküche“ einrichtet, in der Bedürftige eine preiswerte Mahlzeit erhalten.
Vier von Pferden durch die Straßen gezogene Feldküchen („Gulaschkanonen“) beliefern jene, die nicht ins Mainviertel kommen können. Geschirr ist mitzubringen; an der Feldküche wird das Essen nach militärischem Vorbild „gefasst“.
Es gibt dicke Suppen, Gemüse mit Kartoffeln und nur einmal in der Woche eine Fleischbeilage. Eine Portion von einem Dreiviertelliter kostet 15 Pfennige; Stadtarme erhalten Freikarten. Die Köche im „Bauchs-keller“ sind auch für die Zubereitung der Schulspeisung für arme Kinder zuständig; diese bekommen vor dem Unterricht eine warme Suppe.
Am 25. August 1917 öffnet eine wesentlich größere „Volksküche“ in Grombühl, die täglich für bis zu 3000 Menschen Essen zubereiten kann. Die preiswerten Mahlzeiten können im eigenen Geschirr abgeholt oder im 300 Personen fassenden Speisesaal verzehrt werden.
Im täglichen Leben drängt sich das Wort „Ersatz“ immer mehr in den Vordergrund. Die Bürger werden aufgefordert, nicht dem nachzutrauern, das sie nicht mehr bekommen können, sondern sich Lebensmitteln zuzuwenden, die noch zu haben sind – wobei Katzenfleisch für viele selbst in der größten Not ein Tabu bleibt. Gerstenkaffee, Kunsthonig und Rübensirup kommen jetzt auf den Speiseplan.
Flugblätter und Kriegskochbücher wie „Die fett- und fleischlose Kriegskost“ geben Hinweise, wie aus ungewöhnlichen Zutaten nahrhafte Mahlzeiten hergestellt werden können und bieten beispielsweise Rezepte für Gerstengrießauflauf ohne Ei, Wurzelsuppe oder Dörrgemüse.
Bereits im Sommer 1915 hat die Zeitschrift „Frauenstreben“ im zeittypischen Militärjargon zum sparsamsten Umgang mit Lebensmitteln aufgerufen. Denn: „Jedes Stück Brot und jedes Pfund Mehl ist ein Stück Munition im wirtschaftlichen Daseinskampf.“
Um die Engpässe bei der Öl- und Fettversorgung zu verringern, wird Speiseöl aus Bucheckern und Obstkernen gewonnen. Von 1916 bis 1918 findet in Bayern daher jährlich eine Sammlung von Obstkernen statt.
„Ersatz“ lautet die Parole auch außerhalb des Bereichs der Lebensmittel. Aufgrund der Importbeschränkungen für Baumwolle entsteht Ende 1915 eine „Kriegskommission zur Beschaffung neuer Spinnfasern im Inlande“. An die Bürger geht die Aufforderung, mindestens 40 Zentimeter lange, unmittelbar über der Wurzel abgeschnittene und entblätterte Brennnesselstängel zu sammeln und sie entweder getrocknet oder in frischem und grünem Zustand gebündelt abzugeben.
Sammlung von Frauenhaaren
Seit November 1917 führt der bayerische Frauenverein des Roten Kreuzes mit Genehmigung des Kriegsministeriums in ganz Bayern eine freiwillige Sammlung von Frauenhaaren durch. Sie dienen als Ersatzstoff für die Herstellung von Treibriemen sowie Filz- und Dichtungsringen in der Rüstungsindustrie.
Wie in der Hungerkrise nach dem Zweiten Weltkrieg fahren auch im Ersten Weltkrieg viele hungrige Städter aufs Land, um für gutes Geld, später für Sachwerte, Butter und Schmalz, Fleisch und Kartoffeln eintauschen. Das ist natürlich strengstens verboten; als die „Hamsterfahrten“ überhandnehmen, richtet die Würzburger Stadtverwaltung im August 1917 am Hauptbahnhof eine Gepäcküberwachung ein.
„Bis Kriegsende werden Waren im Wert von über 115 000 Mark beschlagnahmt und zu ermäßigten Preisen an Würzburger Wohlfahrtsstellen abgegeben“, schreibt Hans Löffler.
Ein noch ungleich größeres Problem stellen Einkäufer von auswärts dar, die die ohnehin schon klammen Würzburger Lager leerkaufen wollen und die Preise nach oben treiben. „Durch die große Nachfrage aus Sachsen und Norddeutschland trat eine starke Abwanderung unserer heimischen Gemüse dorthin ein, was sehr missfiel“, notiert Hans Löffler. Dies habe „des Öfteren zu erregten Auftritten der Würzburger Bevölkerung“ geführt. Die Konsequenz: Würzburg kauft selbst Obst und Gemüse für seine Bürger ein und verkauft beides im eigenen Laden. Der Umsatz in drei Jahren ist beträchtlich: 76 000 Mark bei Obst, 240 000 Mark bei Gemüse.
Schleichhändler, die auf dem Schwarzen Markt Lebensmittel nach auswärts verkaufen, können im Rückfall mit Zuchthaus bestraft werden.
Das tägliche Leben wird nicht nur von Lebensmittelknappheit bestimmt; Mangel herrscht beispielsweise auch an Petroleum. Maria Gümbel notiert schon elf Wochen nach Kriegsbeginn, dass in manchen Läden keines mehr zu bekommen ist. Wenig später müssen alle Bestände an das Heer gehen.
Ab dem Sommer 1917 macht sich der Kohlenmangel gravierend bemerkbar; zwar werden Marken ausgegeben, doch auch in diesem Fall ist der Besitz einer Marke keine Garantie dafür, das aufgedruckte Produkt auch zu erhalten. Weil Kohlen für die Stromerzeugung fehlen, wird der Betrieb der Würzburger Straßenbahn reduziert und schließlich auf einigen Linien ganz stillgelegt.
Eine weitere Folge der Kohlenknappheit ist die Beschränkung des Eisenbahnverkehrs, die zuletzt so weit führt, dass nur bei nachgewiesener besonderer Dringlichkeit eine Fahrkarte erhältlich ist. Die dafür nötigen Ausweise werden im Würzburger Einwohnermeldeamt ausgestellt.
Im Sommer 1916 ist die Lage an der „Heimatfront“ schon vielerorts verzweifelt und viele glauben nicht, dass Deutschland unter diesen Umständen noch lange weiterkämpfen kann. Tatsächlich wird der Krieg aber noch fast zweieinhalb Jahre dauern – bei kontinuierlich verschlechterten Lebensbedingungen.
Im Sommer 1916 fällt die Kartoffelernte wegen einer Pilzkrankheit um 50 Prozent geringer aus als erwartet. Daher werden im Winter 1916/17, dem berüchtigten „Steckrübenwinter“, die vor allem als Schweinefutter genutzten Steckrüben als Hauptnahrungsmittel für die Zivilbevölkerung dienen.
In Berlin und Leipzig wird es im April 1917 zu Massenstreiks kommen, die sich gegen die katastrophalen Versorgungsverhältnisse und gegen die Kriegspolitik richten. Die Würzburgerin Maria Gümbel hat schon am 29. Oktober 1915 ihrem Mann geschrieben, man höre überall, dass der Krieg Schwindel und „nur für die Reichen“ sei.
Diese Einschätzung wird sich immer weiter ausbreiten je mehr Soldaten fallen und je weniger es zu essen gibt.
Als der Krieg im November 1918 zu Ende ist, werden in Deutschland rund 700 000 Menschen an Hunger und Unterernährung gestorben sein.