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WÜRZBURG
Der Mann, bei dem das Krokodil Tränen lacht
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:19 Uhr

Und plötzlich ist der Kaktus Sarastros Wächter. Eben noch war er einfach ein kleiner grüner Kaktus. Mit zarter Blüte, aus der ein verliebter Kolibri Nektar saugte. Da nimmt Norbert Böll den Kaktus, dreht ihn um, lächelt ins Publikum: Voila. Überrumpelt wird das Geschöpf als Oberaufseher in die Kulissen gerufen. Es gilt, das Reich des Fürsten Sarastro gegen Eindringlinge zu bewachen. Also, stramm stehen, aber stachelig, ähh . . . zackig.

Und Norbert Böll zwinkert verschmitzt. Freitagabend im Theater Spielberg. Der Theaterchef selbst eröffnet mit seiner Version der Zauberflöte die Puppenspieltage. Seine Version, das heißt: Mozarts Erfolgsoper aus Sicht des Vogelfängers erzählt. Für Kinder. Und für Erwachsene. Mit Zwischengezwitscher, philosophischen Gedanken, natürlich einer grandiosen Arie der intriganten Königin der Nacht. Und mit vielen Überraschungen.

40 Jahre alt wird das Theater Spielberg in diesem Jahr. Deshalb hat der Herr der Puppen den knuffigen, federzerzausten Papageno und den sanft dreinblickenden Tamino wieder mal aus dem Koffer geholt, den Kaktus aufgestellt und zeigt zur Feier des Tages, der Puppenspieltage und überhaupt der vier Jahrzehnte Puppenspiel ein eigenes Stück.

„Endlich mal wieder Kinder sein“

Wenn am Ende dann – Papageno hat seine Papagena gefunden und der Kaktus wieder seinen Frieden – die Erwachsenen applaudieren und irgendwie beseelt gucken. Dann ist Norbert Böll glücklich. Die schönste Rückmeldung, sagt der Mann, der Dutzende Stücke für Kinder geschrieben, gebastelt, umgesetzt hat, ist für ihn immer noch, wenn nach der Vorstellung die Älteren im Publikum kommen. Und sagen: „Danke, wir waren ganz weg von der Welt und konnten endlich mal wieder Kind sein.“

Die Magie ist machbar. Es braucht nur wenig Mittel dafür. Und jeder kann spielen.

Mit diesem Verständnis spielt Norbert Böll seit 40 Jahren. Er hat in den 1970er Jahren Design an der Würzburger Fachhochschule studiert, war dann im Auftrag von Kunstprofessor und Sonderpädagoge Wolfgang Mahlke in Sachen Baumalerei in Südamerika unterwegs. Irgendwie kam er über die Gestaltung zum Maskentheater und vom Maskentheater zum Puppenspiel. Er lernte es in Bochum am Deutschen Institut für Puppenspiel und in Tschechien. In Königgrätz schnitzte Norbert Böll seine ersten Puppen und erlebte jene Magie, wenn die hölzernen Gesellen plötzlich lebendig werden und die Regie übernehmen.

„Damals war die Gesellschaft offener für was Neues“, sagt Norbert Böll heute, wenn er an die Anfangsjahre denkt. Damals habe er fast ausschließlich eigene Stücke gespielt. Heute erwarte das Publikum Bekanntes, wolle lieber vertraute Stoffe sehen statt sich auf Fremdes, Unbekanntes einzulassen. Die Eltern zumindest. Es klingt ein wenig bedauernd. Aber schon zwinkert der 63-Jährige die Grübelfalten wieder weg.

Alles begann im kleinen Haus am Randersackerer Spielberg

Zurück aus Prag und Königgrätz holte der spielende Grafiker 1978 in Randersacker, in einem kleinen Haus am Spielberg, die Puppen aus dem Koffer. Sie sollten leben und brauchten Publikum. „Laterne und Sterne“, so hieß das allererste Stück des Mobilen Theaters Spielberg. Ein Nachtwächter streift durch die Gassen einer kleinen Stadt, und weil er so viele Kinder trifft, vergisst er doch glatt seine Laterne. Sie nutzt die Gelegenheit und fliegt hinauf zu den Sternen, die sie so liebt. Dem Nachtwächter bleibt nichts anderes übrig, als sie wieder herunterzuholen . . .

Heute noch sind kleine Zuschauer ab vier Jahren hell begeistert, wenn der Pfeifenrauch des Nachtwächters zum Himmel hochsteigt und den Mond niesen lässt. Dass Böll dabei vor und hinter der Guckkastenbühne spielt, die Tricks verrät und zum Beispiel erklärt, was es mit der Hexe Besenstiel auf sich hat, tut der Illusion keinen Abbruch. Im Gegenteil. Böll ist ein Puppenspieler, der nicht verschwindet, sondern mitspielt und sich ins Geschehen einmischt. In seiner Ausbildung hat er gelernt, „dass eine Konkurrenz mit den Menschen den kleinen Stars ganz guttut“.

Deshalb sorgt er in der Zauberflöte ja auch für das Zwischengezwitscher. Macht sich Gedanken über die Zeit und Vergänglichkeit . . .

Beäugt von Puppenaugen beim Glückskuchen im Kindercafé

Apropos. Als das Häuschen in Randersacker 1981 umgebaut werden sollte und die Puppen eine neue Heimat brauchten, fand sich in Würzburg, in Grombühl, ein heruntergekommenes Hinterhaus im Besitz der Stadt. Wenn man fast vier Jahrzehnte später bei Glückskuchen und Schokokuss für 20 Cent unter dem Theaterdach im gemütlichen Kindercafé sitzt, um sich herum lauter Marionetten, Handpuppen, Stabpuppen, Puppen aus Textilien, aus Pappmaschee, Hartschaum, Gummi und viele, viele Spielberg-Krokodile, braucht es eine gute Portion Vorstellungskraft. Dann lässt sich ahnen, wie dank engagierter junger Leute mit wenig Geld und alten Balken aus der Bruchbude ein Puppenpalast samt Werkstatt wurde, in dem vor 35 Jahren dann die ersten Puppenspieltage stattfanden . . .

Das Krokodil? Kein Ungeheuer, sondern freundliches Wappentier! Das nicht heult, sondern Krokodilstränen lacht. Die Bösewichte? Im Theater Spielberg sind sie harmlos wie der Räuber Schnarchzapfen und neigen allenfalls zum Geldbörsen-Stehlen und zu großem Liebeskummer. Böll mag die Übeltäter, Fieslinge. „Weil es mir Spaß macht, das zu spielen, was man im wirklichen Leben nicht sein darf.“

Stückeschreiber, Puppenvater, Schauspieler, Plakatmaler, Abendkassenbetreuer, Mann für alles

Und was dem Stückeschreiber, Puppenspieler, Programmheft-Entwerfer, Regisseur, Gästewillkommenheißer und Ticketmann an der Abendkasse mindestens so viel Spaß macht, wie ab und an monostatosmäßig zu grollen und fies zu sein: sich beim Bühnenbild auszutoben. „Das Schöne ist, dass man im Puppentheater aus allem was machen kann!“, sagt Böll mit lautem Ausrufezeichen. Der Dachboden des Theaters ist voller altem Krims und noch älterem Krams, der sich prima in Szene setzen lässt. Irgendwann irgendwo in einem Stück. Im Erwachsenenstück „Der brave Soldat Schwejk“ wird eine Schreibmaschine zum Klohäuschen. In „Moby Dick“, das Stück, das Böll besonders am Herzen liegt, kommt das Schiff von Käpt'n Ahab als auseinandergeschnittener Waschzuber von der Decke. Schiffsjunge Pip ist ein altes Gießkännchen mit Gliedmaßen und Kopf, Ahab war mal eine Wärmflasche.

Er mache Stücke gegen die Angst, sagt Norbert Böll. Angst halte vom Leben ab. Er hat es selbst erfahren durch einen Schicksalsschlag in der Familie. Doch wieder ist da das Augenzwinkern und Lächeln. Und Böll zitiert den französischen Pantomimen Jean-Louis Barrault: „Spielen bedeutet Kämpfen gegen die Angst. Es bedeutet, Glück zu erfinden.“

Das Theater Spielberg wird 40 Jahre jung: Norbert Böll mit Oma Josefine, die auch schon fast vier Jahrzehnte auf dem weichen Buckel hat.
Foto: Ivana Biscan | Das Theater Spielberg wird 40 Jahre jung: Norbert Böll mit Oma Josefine, die auch schon fast vier Jahrzehnte auf dem weichen Buckel hat.
Norbert Böll als Vogelfänger in seiner „Zauberflöte“.
Foto: Thomas Obermeier | Norbert Böll als Vogelfänger in seiner „Zauberflöte“.
Papageno eilt herbei, um Tamino aus dem Schlund des Ungeheuers zu retten: Szene aus der „Zauberflöte“ mit Puppen und Bühnenbild von Norbert Böll im Theater Spielberg.
Foto: Thomas Obermeier | Papageno eilt herbei, um Tamino aus dem Schlund des Ungeheuers zu retten: Szene aus der „Zauberflöte“ mit Puppen und Bühnenbild von Norbert Böll im Theater Spielberg.
Vor der Vorstellung: Die Puppen warten im Theater Spielberg schon mal aufs Publikum.
Foto: Ivana Biscan | Vor der Vorstellung: Die Puppen warten im Theater Spielberg schon mal aufs Publikum.
Viele Krokodile: Kleine Sammlung im Theater Spielberg. Das Wappentier ist aber harmlos, verspricht Norbert Böll.
Foto: Ivana Biscan | Viele Krokodile: Kleine Sammlung im Theater Spielberg. Das Wappentier ist aber harmlos, verspricht Norbert Böll.
 
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