Eine Gruppe empörter Adliger zieht hinauf zur Prager Burg. Mit Degen und Pistolen stellen die protestantischen Vertreter der böhmischen Stände die Statthalter des katholischen Königs zur Rede, weil sie um die Religionsfreiheit fürchten. Die Lage eskaliert schnell: Die Adligen packen zwei Kommissare des Kaisers und ihren Sekretär und werfen sie aus dem Fenster. Der „Prager Fenstersturz“ vom 23. Mai 1618 gilt als Auslöser und – auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, bis die ersten Heere gegeneinander aufmarschierten – als offizieller Beginn des Dreißigjährigen Kriegs. Eine Auseinandersetzung, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem europäischen Konflikt ungekannten Ausmaßes und zum schrecklichsten aller Kriege in der Frühen Neuzeit entwickeln sollte.
Die Würzburger Historikerin Anuschka Tischer, Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere Geschichte, ist mit Kollegen auf einer internationalen Tagung in Würzburg gerade der Frage nachgegangen, welche Entwicklungen durch den für die deutsche und europäische Geschichte fundamentalen Krieg entfesselt wurden.
Angela Merkel hat den aktuellen Syrien-Konflikt, der seit sieben Jahren andauert, gerade mit dem Dreißigjährigen Krieg verglichen. Der Westfälische Frieden sei damals, im 17. Jahrhundert, „auch nicht in zwei Monaten“ ausgehandelt worden Aus Sicht der Historikerin: Passt der Vergleich?
PRof. Anuschka Tischer: Vergleiche mit dem Dreißigjährigen Krieg beziehen sich oft nur allgemein auf die lange Dauer oder die Komplexität des Krieges. Aber die Kanzlerin hat tatsächlich einen wichtigen Aspekt des Dreißigjährigen Krieges benannt, bei dem ich den Bezug zur Gegenwart sehe: Um einen langen und komplexen Krieg zu beenden braucht man Zeit, Geduld und Kreativität. Die Geschichte kann dabei helfen, die Gegenwart in neuer Perspektive zu betrachten. Gerade der Dreißigjährige Krieg ist ein gutes Beispiel für die regelmäßige Aktualisierung eines historischen Themas. Er ist in verschiedenen Epochen immer wieder unter aktuellen Fragestellungen aufgegriffen worden. Und gerade eben wird diskutiert, inwieweit er und seine Überführung in den Frieden ein Beispiel für aktuelle Konflikte sein könnte.
Der Westfälische Frieden soll als Muster für die Konflikte in Afghanistan oder Syrien dienen? Können Historiker aktuelle Krisen lösen?
Tischer: Historiker können Krisen natürlich nicht lösen, aber sie können wichtige Denkanstöße geben. Die Geschichte bietet ein breites Angebot an unterschiedlichen Situationen und Handlungsoptionen. Frank-Walter Steinmeier hat als Außenminister ein Projekt angeregt, um der Politik solche Denkanstöße für den Nahen Osten aus dem historischen Beispiel des Westfälischen Friedens zu geben. An dem Projekt waren Historiker, unter anderem auch ich, Politologen, Völkerrechtsexperten und andere Fachleute beteiligt, die Hintergrundgespräche mit Diplomaten, Journalisten, aber auch mit Akteuren aus dem Nahen Osten geführt haben. Es ging darum, Anregungen zu geben. Wir haben versucht aufzuzeigen, welche Wege man in historischen Konflikten eingeschlagen und welche Friedensinstrumentarien man entwickelt hat.
Was zeichnet den Westfälischen Frieden denn aus? Wodurch ist er heute noch Vorbild?
Tischer: Er hat Deutschland eine Friedensordnung gegeben, die anderthalb Jahrhunderte, bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches, Bestand hatte. Es war nicht der allgemeine Frieden der Christenheit, den man sich zunächst versprochen hatte. Aber zentrale Verfassungsfragen und die religiöse Spaltung in Deutschland, die beide zum Dreißigjährigen Krieg führten, konnten in einem dauerhaften Frieden gelöst werden. Das erforderte von allen Beteiligten völlig neue Denkweisen. So begannen friedensbereite Katholiken und Protestanten während der Verhandlungen zusammenzuarbeiten, um auf die weniger friedenswilligen Parteien Druck auszuüben. Am Ende stand ein ausgewogenes Verhältnis der Konfessionen oder auch eine Kontrolle des Kaisers durch den Reichstag. Dabei war es kein Erschöpfungsfriede, sondern er war von der Einsicht getragen, dass bestimmte Ziele mit Gewalt nicht zu erreichen waren. Es wurden auch Punkte zur Friedenssicherung eingebaut, unter anderem eine Garantie durch die auswärtigen Kriegsmächte. Und man hat an der Friedenssicherung nach 1648 aktiv weitergearbeitet. All das sind wichtige Aspekte eines erfolgreichen Friedensprozesses.
Der Blick 400 Jahre zurück, Prager Fenstersturz. Man hat das schon mal gehört. Aber die wenigsten von uns wissen, was damals war.
Tischer: Stimmt, in der Schulzeit war der Dreißigjährige Krieg kein Thema. In meiner Schulzeit hat er jedenfalls keine Rolle gespielt. Das hatte sicherlich viel damit zu tun, dass man lange Zeit der Ansicht war, der Dreißigjährige Krieg sei ein Religionskrieg gewesen, und solche Kriege gebe es heute nicht mehr.
Das würde heute wohl keiner mehr behaupten.
Tischer: Genau. Somit lässt sich auch das neue Interesse damit erklären, dass man mittlerweile wieder viele Konflikte als religiös motiviert sieht. Aber da müssen wir Historiker bremsen und sagen: Nein, der Dreißigjährige Krieg war kein Religionskrieg, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass die Religion als Kriegsgrund oder Kriegsursache vorherrschend gewesen wäre. Vermeintliche Religionskriege haben fast immer eine Fülle von Motiven als Auslöser. Das Religiöse kommt erschwerend dazu.
Was war der Dreißigjährige Krieg dann? Was muss – oder sollte – man wissen?
Tischer: Es kamen unterschiedliche Faktoren zusammen: die konfessionelle Spaltung, die nach der zeitweiligen Beruhigung durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 wieder eskalierte; offene Verfassungsfragen im Heiligen Römischen Reich; die Angst in ganz Europa vor einem übermächtigen, international verflochtenen Haus Habsburg, das auch den Kaiser stellte. Entscheidend war, dass für viele Bereiche klare rechtliche Grundlagen fehlten. Der Augsburger Religionsfrieden hatte wichtige Fragen wie die, ob Kirchengut säkularisiert werden dürfe, in einer unklaren Rechtslage belassen. Die paarte sich dann oft mit Gewaltbereitschaft und Ehrgeiz.
Das führt zum Fenstersturz?
Tischer: Der Auslöser war eine juristisch komplizierte Auseinandersetzung um den Status von zwei protestantischen Kirchen. Sie spielte sich aber vor dem Hintergrund ab, dass der böhmische König und designierte Kaiser Ferdinand II. sichtlich geneigt war, die Protestanten zu drangsalieren, während einige böhmische Protestanten entschlossen waren, sich das nicht länger bieten zu lassen und am besten die habsburgische Herrschaft ganz loszuwerden. Schon war die Revolte da, in der dann der calvinistische Kurfürst von der Pfalz eine vermeintliche Chance sah, König von Böhmen zu werden. Und so war in kurzer Zeit ein Krieg ausgebrochen, der sich durch internationale Verflechtungen sowie konfessionelle und dynastische Solidarität schließlich zu einem langen, kaum mehr zu entflechtenden europäischen Krieg auswuchs. Das Söldnerwesen kam noch erschwerend hinzu. Insgesamt brachen strukturelle Prozesse auf, die lange geschwelt hatten, und dann durch Gewalt zum Abschluss gebracht wurden.
Was interessiert Sie als Historikerin nach 400 Jahren daran besonders?
Tischer: Die Wandlungsprozesse sind interessant, die durch den Dreißigjährigen Krieg entfesselt wurden.
Wandlungsprozesse?
Tischer: Beispielsweise der Prozess der Staatsbildung und damit verbundene Fragen: Wer hat in einem bestimmten Herrschaftsgebiet das Sagen, welche Strukturen sind notwendig, wie müssen sie funktionieren? Oder um die Umgestaltung des Heerwesens. Den Krieg haben ja in der Hauptsache Söldnerheere dominiert, die teilweise von Personen angeführt wurden, die sich mit ihren militärischen Erfolgen mehr und mehr als politische Akteure verstanden, weil sie wussten, dass die anderen auf sie angewiesen waren. Da hat man gemerkt, dass das so nicht mehr geht, und hat in der Folgezeit stehende Truppen aufgestellt, die unter staatlicher Verwaltung standen, dauerhaft im Dienst waren und dementsprechend immer professioneller wurden.
Barockdichter Andreas Gryphius fasste das Grauen der Zeit in Worte: „Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen. Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit. Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid.“ Wie dramatisch und traumatisch war für die Bevölkerung dieser Krieg?
Tischer: Die Kriegsfolgen und die Traumatisierung sind leider noch unzureichend erforscht. Es ist ja eine Erkenntnis erst der jüngsten Forschung, dass große Kriege in der Bevölkerung langfristig, also noch weit über die Generation der Zeitgenossen hinaus, Spuren hinterlassen. Die Stabilität des Westfälischen Friedens ist auch der Erinnerung an die Schrecken zu verdanken, denn niemand wollte, dass ein Krieg in dieser Form von dieser Länge und Brutalität wieder ausbricht. Die tatsächlichen Folgen muss man differenzieren. Es war kein totaler Krieg. Es war nicht 30 Jahre lang immer und überall Krieg. Es gab Regionen, die prosperierten, es gab Ruhephasen, es gab ganz normalen Alltag. Aber der Krieg konnte jederzeit mit extremer Gewalt über jeden hereinbrechen. Dieses jahrzehntelange Nebeneinander von Normalität und apokalyptischem Ausnahmezustand hat die Menschen geprägt. Auf ganz Deutschland gerechnet gab es eventuell Verluste von bis zu einem Drittel der Bevölkerung durch Hungersnöte, Seuchen und andere Kriegsfolgen. Die gesellschaftliche Dynamik in Deutschland hat sich im europäischen Vergleich durch den Krieg verlangsamt. Nicht zuletzt auch deswegen, weil Deutschland nach 1648 immer wieder Kriegsgebiet wurde und sich darum nur schwer von den Folgen erholen konnte.
Und Franken hat es besonders stark getroffen?
Tischer: Franken traf der Krieg vor allem unerwartet und fast schutzlos. Die Region lag vermeintlich sicher mitten im Heiligen Römischen Reich und katholischem Kernland. Bis zum Kriegseintritt Gustav Adolfs von Schweden 1630 hatte es keinen Grund gegeben anzunehmen, dass der Krieg hierhin vordringen würde. Selbst kurz vor der schwedischen Eroberung Würzburgs 1631 ging man noch davon aus, dass es nicht so weit kommen würde. Das erwies sich als Irrtum.
Welche Auswirkungen haben die Auseinandersetzungen in Franken bis heute?
Tischer: Die unmittelbare protestantische Bedrohung hat den katholischen Glauben in Franken gestärkt. Nicht von ungefähr geht ja der Kult um die Mariendarstellung im Würzburger Käppele auf den Dreißigjährigen Krieg zurück. Davon ist Franken bis heute geprägt. Zugleich war aber die Zeit der Gegenreformation vorbei. Johann Philipp von Schönborn steht als Bischof von Würzburg in der letzten Phase des Dreißigjährigen Krieges für ein konstruktives Miteinander der Konfessionen. Das hat sich langfristig durchgesetzt.
Anuschka Tischer
Die Historikerin, 1968 in Arnsberg geboren, ist seit 2012 Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Universität Würzburg. Tischer studierte Geschichte, Philosophie und Dogmatik in Bonn. Vor dem Ruf nach Würzburg arbeitete sie an der Universität Lettland in Riga, in Marburg und Frankfurt. Ihre Promotion schrieb sie über den außenpolitischen Wandel von Richelieu zu Mazarin am Beispiel der französischen Diplomatie beim Westfälischen Frieden. In ihrer Habilitation befasste sie sich mit "Offiziellen Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit: Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis".
Aus der Tagung in Würzburg zum Dreißigjährigen Krieg, die Anuschka Tischer organisierte, ist ein Sammelband entstanden: Darin geht es um europäischen Mächtebeziehungen, Kriegsstrategie und -finanzierung, das religiöse, geistige und kulturelle Lebens sowie die Meistererzählungen, die die Nachwelt zur Deutung des komplexen Kriegsgeschehens konstruiert hat.
Buchtipp: Rohrschneider, Michael/Tischer, Anuschka (Hgg.) Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts. Schriftenreihe zur Neueren Geschichte 38 (NF 1), Münster (Aschendorff Verlag) 2018, 342 Seiten, 48 €
1818 bis 1848: Die Chronik des Dreißigjährigen Krieges
1618: Nach dem Fenstersturz in Prag setzen die böhmischen Stände ihren streng katholischen habsburgischen König Ferdinand ab und wählen
stattdessen den reformierten Friedrich V. von der Pfalz. Ferdinand, der kurz darauf Kaiser wird, sammelt ein Heer der katholischen „Liga“, Oberbefehlshaber ist Graf Johann Tilly.
1620: Nach der Schlacht am Weißen Berg löst sich das Heer der Stände auf, der „Winterkönig“ Friedrich flieht. Das katholische Habsburg ist Sieger, der Krieg könnte nun zu Ende sein. Aber die Habsburger folgen dem fliehenden Friedrich und verwüsten die reformierte Kurpfalz, weil ihre spanische Linie das Territorium als Aufmarschgebiet gegen aufständische Niederländer braucht.
1625: Der dänische König Christian IV. tritt auf der Seite der protestantischen „Union“ in den Krieg ein. Der Generalissimus der kaiserlichen Truppen, Albrecht von Wallenstein, besiegt ihn jedoch schnell. Wallenstein vergrößert seinen Besitz durch enteignete Güter erheblich und wird Herzog von Friedland und von Mecklenburg.
1630: Kaiser Ferdinand entlässt Wallenstein, der den Kurfürsten zu mächtig geworden ist. Der protestantische schwedische König Gustav II. Adolf beteiligt sich am Krieg. Gustav Adolf stirbt zwar zwei Jahre später in der Schlacht von Lützen, aber das schwedische Heer bleibt großer Machtfaktor.
1631: Tilly, Oberbefehlshaber des katholischen Kaisers, erobert am 20. Mai Magdeburg. Seine Truppen richten ein Massaker an, Zehntausende werden getötet. Nach Erfolgen der Schweden wird Wallenstein wieder Oberbefehlshaber.
1634: Wallenstein wird in Eger unter dem Vorwurf des Hochverrats ermordet.
1635: Frankreich greift nun auch direkt militärisch ein, nachdem es jahrelang den Gegnern Habsburgs große Summen zur Finanzierung ihrer Kriegskosten gezahlt hatte.
1648: Der Westfälische Friede beendet den Krieg. Reformierte werden den Lutheranern und Katholiken gleichgestellt, Untertanen müssen nicht mehr die Konfession ihrer Fürsten annehmen.