In Solingen gibt es eine Skulptur der Künstlerin Christiane Püttmann. Drei aus einem Kalksteinblock gehauene Köpfe stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Kopf „Vergangenheit“ ist übermächtig, scheint die Gegenwart zu erdrücken, die Zukunft scheint unbestimmt.
Als Walter Kohl das Kunstwerk sieht, weiß er: Das hat was mit ihm zu tun. Er besucht die Künstlerin im nahen Wuppertal und bestellt sich bei ihr eine eigene Skulptur: wieder drei Köpfe, nicht aus Stein, sondern aus Holz. Diesmal ist die Übermacht der Vergangenheit gebrochen, eine schmale Rille trennt den Kopf, der fürs Gestern steht, vom Heute und Morgen. Die Skulptur schenkt sich Walter Kohl zu Weihnachten und nennt sie Felix – der Glückliche. Das ist jetzt sechs Jahre her.
Am Dienstag geht Felix, 11,5 Kilo schwer und mit schmeichelnd weichen Konturen, im Würzburger Kolping-Center von Hand zu Hand. Nur wenige Tage nach dem Gedenken an die Zerstörung Würzburgs geht es hier um die Frage „Frieden ohne Versöhnung – geht das?“, und Walter Kohl, Unternehmer, Coach, Autor und Sohn des früheren Bundeskanzlers, soll dazu sprechen.
Die eigene Biografie im Hintergrund
Der 54-Jährige geht nur kurz auf den Bombenkrieg ein, historische Einzelheiten sind an diesem Abend in Würzburg nicht das Thema. Es geht um Freundschaft, um Frieden, aber auch um Sackgassen im Leben und um Kampf. Es geht darum, wie man mit dem eigenen Leben umgeht, und im Hintergrund geht es immer auch um das Leben des Walter Kohl.
Von ihm gibt es ein recht bekanntes Foto, wie er 1975 als Zwölfjähriger in Lederhose und kariertem Hemd lächelnd und mit festem Blick in die Kamera blickt, neben sich seinen Vater Helmut und seinen jüngeren Bruder Peter, im Hintergrund seine Mutter Hannelore. Das perfekte Familienidyll. 26 Jahre später nimmt sich Hannelore Kohl das Leben. Gestorben ist sie im Jugendbett ihres Sohnes Walter.
„2001 war meine Stunde null“, sagt Kohl vor seinem Würzburger Publikum: Zum Tod der Mutter kamen das Aus seiner Ehe und die Parteispendenaffäre des Vaters. Der damals 38-Jährige beginnt, Lebensratgeber zu lesen, die ein „Leben im Hier und Jetzt“ empfehlen. Hier und Jetzt? Am Grab seiner Mutter habe er gemerkt, dass man immer in drei Zeiten zugleich lebt. Zum Hier und Jetzt gehört die Zukunft und – ganz wichtig – das Gewesene: „Die Vergangenheit steht immer mit im Raum.“
Erklären, was Frieden ist
Aber wie mit dieser Vergangenheit umgehen, wenn sie „Wackersteine“ birgt, die sich kaum tragen lassen? Und wie ist das nun mit Frieden und Versöhnung? Kohl, der im Kolping-Center keinen klassischen Vortrag hält sondern lieber einen Dialog mit dem Publikum moderiert, versetzt sich in die Rolle eines Zwölfjährigen: Erklärt mir doch mal, was Frieden ist.
Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Zuhörer, aber zwei Begriffe gefallen Kohl richtig gut: Schonung und Freundschaft – vor allem Freundschaft. „Für mich gibt es drei Freundschaften“, sagt er. Neben der Freundschaft mit anderen und der mit Gott ist für Kohl eine Freundschaft besonders wichtig, auf die man wohl nicht sofort kommt: die mit sich selbst.
„Würdest du das, was du gestern getan hast, in zwei Jahren wieder tun mit dem Wissen, das Du gestern gehabt hast? Wenn ja, bist du ein glücklicher Mensch und hast in Freundschaft gehandelt.“ Der Satz stammt nicht von Walter Kohl, sondern von seinem Großvater Hans Kohl, der im unterfränkischen Greußenheim (Lkr. Würzburg) lebte und dort auch begraben ist. Sein Enkel hat sich die Worte bis heute gemerkt.
Aussitzen funktioniert nicht
In Freundschaft mit sich leben. Wer das kann, der packt auch die Vergangenheit. Denn die Zeit, da ist sich Kohl sicher, heilt eben keine Wunden: „Verdrängen und vergessen, das ist bei biografischen Themen Blödsinn, das führt zu Infektionen. Aussitzen klappt hier fast nie, ich weiß, wovon ich rede.“ Beim Stichwort „aussitzen“ lacht das Publikum, jeder weiß, auf wen das Wort weist. Die Anspielung ist das einzige Mal, dass der berühmte Vater ins Spiel kommt.
Kohl stellt immer neue Fragen an die Leute im Saal, jongliert mit Metaphern und Redewendungen und sieht schließlich im Leben einen Kreisverkehr mit verschiedenen Ausfahrten. An einer steht das Wort „Kampf“. Ist Kampf gut? Unter Umständen schon, „wenn es ein klares Ziel gibt und wenn man weiß, wie man den Kampf beendet“. Flucht? Ja, vielleicht auch. „Es gibt Menschen, die sind toxisch. Du kommst in deren Nähe und hast immer ein Problem. Ich habe da auch so ein, zwei in meinem Leben, und seitdem ich einen gesunden Abstand habe, lebt es sich da viel besser.“
Im Kreisverkehr des Lebens
Dennoch: Er brauche „Schritte zum inneren Frieden“, sagt Kohl, für ihn ist das die Voraussetzung von Versöhnung – der dritte Abzweig im Kreisverkehr des Lebens. Er spricht von einem „Friedensvertrag mit mir selbst“, was für einen wie Walter Kohl wohl auch ein Schritt der Befreiung, ein Ausweg aus der ganz privaten Sackgasse ist. Den „eigenen biografischen Rucksack“ kann er inzwischen ohne Ängste anschauen. Kohl nennt das Energiewandel. „Früher war es für mich sehr schwer, über den Tod meiner Mutter zu sprechen. Das war wie so eine Schlinge um meinen Hals. Haben Sie heute das Gefühl, dass das für mich ein Problem ist? – Im Gegenteil. Ich gebe diese Erfahrung an andere weiter, ich tue was fürs Leben.“ Nicht zuletzt deshalb engagiert er sich für „FRANS“, das Frankfurter Netzwerk Suizidprävention.
Mit seinem Vater, der im Juni 2017 starb, hat sich Walter Kohl nicht mehr ausgesöhnt. Auch deshalb nennt er das Thema des Abends gleich zu Beginn eine „Frage, die keine Antwort hat“. Knapp zwei Stunden und viele Dialoge mit dem Publikum später ruht Felix, die Skulptur mit den drei Köpfen, wieder am Tisch auf der Bühne. Walter Kohl, das weiß man jetzt, hat seinen Frieden gefunden.