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WÜRZBURG
Der fliegende Großvater
Ein kanadischer Immobilienmakler sammelt Material über einen legendären Bürger der Domstadt, der 1932 starb. Der Grund: Karl Hackstetter, der als Lenker von Ballons und Luftschiffen Furore machte, ist sein Großvater.
Von unserem Redaktionsmitglied Roland Flade
 |  aktualisiert: 07.01.2016 15:10 Uhr

Midland in der kanadischen Provinz Ontario ist ein Ort mit 16 900 Einwohnern und vor allem in den Sommermonaten ein beliebtes Touristenziel; dann kann die Bevölkerungszahl schon mal auf 100 000 ansteigen. In Midland lebt ein Mann, der sein Geld als Immobilienmakler verdient, dessen heimliche Leidenschaft aber die Geschichtsforschung ist. Vor allem eine historische Person fasziniert den 60-Jährigen: der Würzburger Flugpionier Karl Hackstetter (1876 bis 1932). Der Kanadier Rene Hackstetter ist nämlich sein Enkel.

Über den Kurznachrichtendienst Twitter nahm der Hobby-Historiker vor einigen Monaten Kontakt mit dem Autor dieses Artikels auf. Er hatte im Internet entdeckt, dass die Main-Post die Abenteuer Karl Hackstetters in zwei ausführlichen Berichten gewürdigt hatte. Der langjährige Vorsitzende des „Fränkischen Vereins für Luftfahrt“ (FVL) war einer jener Männer, die das Hubland als ideales Gelände für einen Start- und Landeplatz und für die 1924 eröffnete Flugschule propagierten.

Karl Hackstetter sorgte mit waghalsigen Ballonflügen und als Luftschiffkapitän für Aufsehen. Sein Enkel ist jetzt dabei, die Karriere des abenteuerlustigen Großvaters, der ursprünglich ein braver Regierungsbaumeister war, zu rekonstruieren. Zu seiner Sammlung gehören inzwischen zahlreiche Fotoalben, Bücher, Dokumente und Artikel.

Darunter ist ein Bild, das Karl Hackstetter 1913 in der Uniform eines türkischen Majors zeigt. Damals hatte der Würzburger im Auftrag der Bitterfelder Firma Parseval ein auseinandergenommenes Luftschiff nach Konstantinopel gebracht, es dort wieder zusammensetzen lassen und türkische Militärs in seiner Bedienung unterrichtet.

In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel berichtet Hackstetter beispielsweise von einer Ballonfahrt über die Nordsee im Jahr 1908, die er nur durch Zufall lebend überstand.

Eine wichtige Rolle in der Sammlung des Kanadier spielt das Jahr 1925, das einen letzten großen Höhepunkt in Karl Hackstetters Leben brachte. Vom 11. bis 14. Juni feierte der von Hackstetter 1905 gegründete Fränkische Verein für Luftfahrt in Würzburg sein 20-jähriges Bestehen mit einem großen Luftfahrertag. Zu den Feierlichkeiten erschienen mehr als 200 Vertreter der über ganz Deutschland verbreiteten Luftfahrtvereine. Am 12. Juni fand in der Schrannenhalle in der Spiegelstraße zunächst ein Festessen statt, dessen Leitung in Hackstetters Händen lag. Mancher Hochruf wurde auf den Organisator ausgebracht, der in Würzburg die Flamme der Flugbegeisterung entzündet und immer wieder neu angefacht hatte.

Am 13. Juni folgte ein symbolträchtiger Akt: Der Verein ehrte seinen Gründer, indem ein neuer Ballon Karl Hackstetters Namen erhielt. Um 15 Uhr versammelte sich auf dem Viehmarktplatz, der Luitpoldbrücke (heute Friedensbrücke) und am Mainufer eine tausendköpfige Menschenmenge, um das Schauspiel zu beobachten. Um 15.22 Uhr wurde das Haltetau losgelassen und der Ballon verließ sanft ansteigend den Startplatz. Er trieb westlich am Galgenberg vorbei, von wo aus ihm zwei Flugzeuge eine Strecke weit das Geleit gaben, und landete etwa 50 Kilometer von Würzburg entfernt.

Damit waren die Feierlichkeiten längt nicht beendet. Auch Flugdemonstrationen am Galgenberg und ein Gartenkonzert im Platzschen Garten lockten viele Würzburger an. Stets stand der inzwischen 48-jährige Karl Hackstetter im Mittelpunkt.

Seine Flüge, die damals bereits legendär waren, begeistern noch heute. „Mein Großvater war ein mutiger Mann, der das Risiko nicht scheute“, sagt der Enkel Rene. „Er war einer jener Männer, die Väter im Interesse ihrer Töchter nicht als Schwiegersöhne haben wollten.“

Nach dem Luftfahrertag absolvierte Karl Hackstetter in jeder freien Stunde mit dem neuen Ballon Werbung für verschiedene Firmen auf und stieg zu längeren Fahrten auf. Die erste im Jahr 1926 endete am 18. April nach einem Schneesturm zwischen Bergtheim und Opferbaum. Am 24. Juni 1926 ließ er sich von Münster bis in die Gegend von Budweis treiben.

Am 1. Juli 1928 stieg er mit zwei Mitarbeitern der Universität Würzburg zu einer dreistündigen wissenschaftlichen Fahrt auf, die im Fichtelgebirge endete.

Doch die Fliegerei reichte bald nicht mehr, um den Lebensunterhalt für Karl Hackstetter und seine Familie zu gewährleisten und so kehrte er ohne rechte Überzeugung wieder zum Bauwesen zurück. Im Sommer 1929 wurde er zum Direktor der „Wirtschaftshilfe A.G.“ in Nürnberg ernannt. Die Gesellschaft beschäftigt sich mit der Finanzierung von Eigenheimen in Ober-, Mittel- und Unterfranken und der Oberpfalz. Am 31. Juli 1929 zog er nach Nürnberg.

Wenige Monate später begann die Weltwirtschaftskrise, die viele Hoffnungen, auch die von Karl Hackstetter, zunichte machte. 1930 musste der finanziell klamme Fränkische Verein für Luftfahrt den Ballon „Hackstetter“ nach Münster verkauften. Auch die „Wirtschaftshilfe“ war bald am Ende. Am 25. Juni 1930 kam Hackstetter mit seiner Familie nach Würzburg zurück und bezog eine Wohnung in der Erthalstraße 38.

Für den Flugpionier, der aus seiner ehemaligen Position als Landesbaurat keine Pension bezog, begann der bittere Kampf um eine neue Stellung – ohne durchschlagenden Erfolg. Mit Gelegenheitsjobs als Hilfsarbeiter, Pförtner und Nachtwächter schlug er sich durch, bis er im Winter 1931 den bitteren Gang zum Arbeitsamt antreten musste.

In dieser Not blitze kurzfristig noch einmal die alte Begeisterung auf. Im April 1931 organisierte Hackstetter eine Luftfahrt-Werbewoche, die zu einer jährlichen Tradition werden sollte, und eröffnete sie mit einer Segel- und Motorflugausstellung in der Ludwigshalle. Zusätzlich hielt er Vorträge vor technisch interessierten Würzburgern und betätigte sich als Wahlredner für die katholische Bayerische Volkspartei (BVP).

Kurzzeitig leitete Hackstetter das Erwerbslosenheim der Stadt Würzburg in der Bibrastraße. „Die abgetragene blaue Jacke der Luftschiffkapitäne am schwach gewordenen ausgemergelten Körper, die eingebeulte sturmerprobte Schirmmütze der Luftfahrer in die sorgenzerfurchte Stirn gedrückt, so konnte man ihn in den Straßen der Stadt Würzburg sehen, gramgebeugt, hoffnungslos“, heißt es in einer Lebensbeschreibung.

Hackstetter wurde krank. Schon geschwächt verfolgte er im Mai 1932 die Vorbereitungen für die nächste Luftfahrt-Ausstellung in der Ludwigshalle. Doch die Lichtbildvorträge, die er halten sollte, konnten schon nicht mehr stattfinden.

Am 17. Juni 1932 starb Karl Hackstetter, knapp 56 Jahre alt, völlig verarmt nach einer Magenoperation im Juliusspital. Seine Frau Anna Marie mit der Tochter Hilda und dem Sohn Karl Andreas war ab da ohne jeden Pfennig. Selbst die Prämie für seine Lebensversicherung hatte Hackstetter nicht mehr bezahlen können. Auf dem Hauptfriedhof wurde er begraben.

Der Rest der Geschichte: Karl Andreas wurde im Zweiten Weltkrieg Soldat in Rommels Afrika-Korps, geriet in Gefangenschaft und kehrte nach mehreren Jahren in einem POW-Lager in Colorado nach Tübingen zurück, wo er promovierte. Sein Professor stellte ihn einer Studentin vor, deren Vater Schotte war und die er schließlich – gegen den Willen ihrer Familie – heiratete. „Mein Vater war damals eine halb verhungerte Vogelscheuche“, schreibt Rene Hackstetter. „Sein Schwiegervater sagte zu meiner Mutter: ,Ich habe nicht in zwei Kriegen gegen die Deutschen gekämpft, damit du jetzt einen heiratest.’“ Das Paar zog nach Spaichingen, wo Karl Andreas Redakteur der Lokalzeitung war. 1953 emigrierte die Familie nach Kanada.

Rene Hackstetter ist Vater einer Tochter, Madeleine, die vor Kurzem die High School beendet hat. 1971 kam er erstmals nach Deutschland zu seiner Großmutter Anna Marie, die bis zu ihrem Tod in den siebziger Jahren in Würzburg lebte.

2005 besuchte Rene Würzburg erneut. Der Anlass war klar: Genau 100 Jahre zuvor hatte sein Großvater in der Domstadt den Fränkischen Verein für Luftfahrt gegründet. Auf dem Flugplatz am Schenkenturm, wo der Flugsportclub Würzburg die Tradition des FVL fortführt, verlas Rene eine Botschaft seines Vaters, der wegen seiner angegriffenen Gesundheit die Teilnahme hatte absagen müssen. „In Gedanken bin ich bei euch“, stand in der Botschaft.

Wenig später starb Karl Andreas Hackstetter. Er starb in dem beruhigenden Wissen, dass sein Vater Karl Hackstetter in Würzburg nicht vergessen ist.

 
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