Dass er sich zum Abschied ausdrücklich keine Festveranstaltung, auch keine Geschenke wünschte? Es muss nicht wundern. „Die Reden“, sagt Dr. Karl Südekum, „habe ich alle selber irgendwo gehalten, die muss ich nicht hören.“ Sucht man im Archiv unserer Zeitung nach Artikeln, in denen der Direktor der Universitätsbibliothek zitiert oder genannt wird, dann findet man Berichte über Neuanschaffungen, digitale Angebote oder Öffnungszeiten. Über Säurefraß und Schenkungen. Oft geht es um undichte Dächer und regennasse Regale. Häufig um fehlendes Geld. Besonders eng aber steht Südekums Name in Verbindung mit dem Wertvollsten der Unibibliothek: mit dem Kulturgut, das es zu bewahren, zu sichern gilt.
Zum Abschied eine Restaurierung
Kein großes Fest also. Aber zum Abschied in den Ruhestand sammelten seine Mitarbeiter natürlich doch. Und Südekum sagte: „Okay, dann nehme ich das zum Anlass für eine Restaurierung.“ Jetzt ist das Manuale des Michael de Leone aus der Mitte des 14. Jahrhunderts frisch restauriert. „Ein Stück von europäischem Rang, das wichtig für die Geschichte unserer Universität ist.“
Seit 1982 war Karl Südekum an der Bibliothek der Würzburger Universität tätig. Erst als Referendar, nach fünf Jahren Zwischenstation in Bamberg dann als Fachreferatsleiter und Chef der Katalog- und Erwerbungsabteilung. Schließlich wurde er Direktor. Und wenn der Herr über 3,4 Millionen Medien und Chef von 130 Mitarbeitern jetzt nach 18 Jahren an der Spitze der UB im Ruhestand ist, bereitet ihm dies die größte Freude: mit dem Abschied noch einmal ein wertvolles Dokument aus dem Bestand gut erhalten zu wissen.
Lieblingsort Handschriftenmagazin und „Rara“-Abteilung
Kulturgüterschutz, Neuanschaffungen, Öffnungszeiten, Sanierungsbedarf und Geldmangel, schließlich die Digitalisierung. Das sind die Schlagzeilen im Berufsleben des gebürtigen Niedersachsen. Wenn man Süde-kum bei einem letzten Rundgang durch die UB nach seinem liebsten Ort dort fragt, fallen ihm viele ein. Der allerliebste? Das Handschriftenmagazin, natürlich. Ein gesicherter Ort, nicht frei zugänglich, zu betreten nur mit Genehmigung des Leiters der Abteilung, Dr. Hans-Günter Schmidt, dem Nachfolger.
Also hoch hinauf, in den vierten Stock, wo die „Rara“, die Bestände aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert lagern und wo es so vertraut und trocken nach altem Buch riecht. Geregelte 20 Grad hat es hier, 50 Prozent Luftfeuchtigkeit. Wohlfühlklima für dicke Schinken. „Das ist ein Ort, da kommen einem viele, viele Überraschungen entgegen.“
Immer wieder hat der Direktor dort besondere Stücke herausgepickt. Wenn er nach München fuhr, um im Prüfungsaussschuss den Bibliothekarsnachwuchs mündlich zu befragen, dann ging er vorher in den vierten Stock und zog ein Buch aus dem Regal. Mal ein verschimmeltes, mal eines mit Säurefraß, mal eines mit besonderem Einband: „Was ist das? Was muss man damit machen?“ Die meisten Prüflinge hätten zwar nie wieder mit dem Altbestand in Bibliotheken zu tun. „Aber darüber zu wissen, das gehört einfach dazu.“
Der Altbestand liegt dem Bibliothekar am Herzen. Handschriften, Inkunabeln, alte Drucke – für Südekum sind das mehr als gute Forschungsobjekte für die Mediävisten oder Altgermanisten: „Sie machen die Geschichte des Hauses aus.“ 2300 Handschriften aus dem fünften Jahrhundert bis in die Neuzeit liegen und lagern in der Unibibliothek. Es sind die besonders wertvollen Schätze. Und die, die Südekum und seinem Nachfolger Hans-Günter Schmidt die größten Sorgen bereiten.
Wasser, Schimmel, Säurefraß
Im November 1944, in den Wirren des Zweiten Weltkrieges, hatten Universitätsmitarbeiter die wertvollen Schriften in Munitionskisten aus der Stadt gebracht. In Kellern irgendwo auf dem Land, auf Dachböden, in Scheunen im Ochsenfurter Gau, in Forsthäusern oder Höhlen tief im Spessart wurden die Dokumente versteckt, um sie vor drohenden Bombenangriffen zu bewahren. Die Schätze entgingen der Vernichtung, doch sie litten. Bis die letzten Objekte zurück in der Bibliothek waren, vergingen Jahre. Die Keller waren feucht gewesen, die Dachböden voller Schimmel. „Die Schäden, die die Objekte heute haben“, sagt Südekum, „sind in der Regel dort entstanden.“ Sicher, das Kiliansevangeliar, der berühmte Prachtkodex mit dem heiligen Buch der Franken, ist konserviert und in einem prachtvollen Zustand. Viele andere Handschriften und Urkunden sind es nicht.
Dazu kommt der Säurefraß. Als man im 19. Jahrhundert begann, Papier industriell herzustellen, nahm man säurehaltiges Material, um den Papierbrei fest zu machen. Anders als das unverwüstliche Pergament oder das einst aus Lumpen geschöpfte Papier zersetzt sich das Holzschliffpapier irgendwann. 50 Jahre – und ein Buch, den chemischen Prozessen ausgeliefert, fängt an zu bröckeln. In der Rara-Abteilung zeigt Südekum auf die Bücher mit blauem Einband: Nach und nach bekommen möglichst viele Bände einen säureneutralen Schutzkarton. Hier und da ist ein Buch in roten Karton eingeschlagen: „Rot“, sagt der 66-Jährige, „heißt Schimmelbefall.“
Von den Karteikästen zur digitalen Suche
Eigentlich ist schon die Eingangshalle der UB für ihn ein liebgewonnener Ort. Als er 1990 an die Würzburger UB kam, um die Leihstelle zu leiten, gab es hier die ersten einzelnen PCs und ein paar CD-ROMs im Angebot.
Die Studenten und Wissenschaftler suchten noch in Karteikästen und Mikrofiche-Katalogen nach Zeitschriftenartikeln und anderer Literatur, kopierten viel, bestellten Bücher per Fernleihe aus einer anderen Bibliothek, warteten lange – um dann vielleicht festzustellen, dass sich der gesuchte Aufsatz als weniger ergiebig erwies als erhofft.
Lesegeräte für die CD-ROMs in der großen Halle? Dass die Bibliografie nicht mehr nur gedruckt vorlag? „Für Bibliothekare unvorstellbar, dass sie sich mit einem technischen Gerät abgeben mussten“, erzählt Südekum und spricht von einer „Mentalitätsfrage“ eines ganzen Berufsstandes. Für ihn habe es keinen Zweifel gegeben, dass die elektronische Datenbank das neue Instrument der Vermittlung war. Seinen ersten PC hatte er 1986 als Bibliotheksrat in Bamberg bekommen: „Olivetti M 25. Werde ich nie vergessen.“
Irgendwann war keine Zeit mehr für Mentalitätsfragen, die elektronischen Angebote, die digitalen Möglichkeiten „explodierten geradezu“. Für die Bibliotheken sei das ein „durchaus schwieriger“ Prozess gewesen: „EDV hielt überall Einzug, aber die Bibliothekare waren nicht gerade an der Front.“ Für die Studentengeneration heute „ist das überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, wie das damals war“.
Südekums neuer Lieblingsort: die Digitalierungsabteilung
Also weiter zu Südekums neuem Lieblingsort im dritten Stock, wo die Revolution der Bibliotheken stattfindet. Der UB-Chef führt in Räume mit schwarzen Wänden. Irgendwo strahlen Scheinwerfer, Kameras sind aufgebaut, an einer Saugwand hängt ein großes Stück bedrucktes Papier. Mit ihrem Digitalisierungszentrum sei die Würzburger Unibibliothek anderen Standorten „zwei, drei Jahre voraus“.
Durch Spenden und Stiftungsgelder möglich gemacht, „digitalisieren wir hier alles, was man digitalisieren kann“. Die Ausrüstung reicht vom ganz normalen Scanner bis hin zu Hochleistungskameras in „bayernweit einmaliger Güte“. Gerade hängen Schulwandbilder aus der großen Sammlung der Bildungsforscher an der Wand und werden erschlossen für die Datenbank. Der Bedarf an Digitalisierung ist uniweit groß: „Die Forscher stehen bei uns Schlange, und wir haben nicht genügend Kapazitäten und Ressourcen, um alle sofort zu bedienen.“
„Die Lehrbücher sind der Renner“
Zwei Stockwerke tiefer stehen wieder Regale. „Unser Bestand wächst nur noch langsam. Weil wir aussondern. Aussondern müssen.“ Anderes müssen die Mitarbeiter aufheben. Als Landesbibliothek bekommt die UB das zweite Exemplar jedes in Unterfranken erschienenen Buches. Stichwort Pflichtablieferung, das erste geht in die Staatsbibliothek. Manchmal, erzählt Südekum, führt die Pflichtaufbewahrung zu Verdruss: „Professoren, zum Beispiel, beschweren sich, dass ein neues Buch aus dem Echter-Verlag nicht ausgeliehen werden kann.
“ Aber solche Bücher muss die UB „über Jahrhunderte aufheben“. Benutzen können es alle, doch bitte nur vor Ort. Die Gefahr, dass ein Buch, das vor 20 Jahren erschienen und heute nicht mehr lieferbar ist, verschwindet – „die ist uns zu groß“.
Weiter in die Lehrbuchsammlung. „Da haben wir den größten Umsatz, den größten Umschlag mit Gedrucktem.“ Auch wenn die UB inzwischen viele Ausgaben als E-Book hat – „die Lehrbücher sind der Renner bei den Studierenden: immer gleich ausgeliehen“. Also fliegen alte zerlesene Auflagen aus der Lehrbuchsammlung raus, neue Auflagen kommen in hoher Stückzahl schnell dazu.
Der promovierte Historiker hat sich immer schon als Dienstleister verstanden – „auch wenn es den Begriff Service in den 80er Jahren ja noch nicht gab“. Aber ihm sei klar gewesen: „Ich gehe nicht in die Bibliothek, um eine Nische zu suchen und mich nur mit alten Büchern beschäftigen zu können.“ Südekum wollte das, was Bibliotheken bieten, „nach draußen bringen“.
Die UB zählt mehr als eine Million Besucher pro Jahr. Nicht nur die 29 000 Studenten und 2400 Wissenschaftler in Würzburg nutzen das Haus zum Lesen, Lernen und Forschen. Sondern auch 4500 Schüler pro Jahr und viele andere Bürger. Reicht es einem Bibliothekar nicht, wenn er von seinen Büchern umgeben ist? „Ich bin eher glücklich gewesen, wenn wir es geschafft haben, das zu erwerben, was gebraucht wird, und die Mittel sinnvoll einsetzen konnten.“ Das lerne man in Zeiten knappen Geldes – „und knappes Geld hatten wir immer“.
Apropos. „Dieses Haus ist wirklich großartig geplant. Es ist für Katalog-Schränke gedacht und hat trotzdem jeden Wandel überstanden.“ Nur die Elektroinstallation habe mit dem Fortschritt nicht mitgehalten. „Dass da plötzlich nicht nur zehn Mikrofiche-Lesegeräte, sondern 40 PCs in der Halle stehen und im ganzen Haus 900 Studierende sitzen, die 900 Steckdosen für Laptop oder zum Akku-Aufladen brauchen – da sind wir in die Knie gegangen.“
Und das Dach war lange Zeit undicht. Vor zehn Jahren führten Studentenvertreter „Stern“-Redakteure durch die Unibibliothek, um die Bildungsmisere in Deutschland zu demonstrieren. Es tropfte, UB-Mitarbeiter stellten Eimer auf und Bleche mussten auf die Regale geschweißt werden, damit die Bücher nicht im Regen standen. An den Computerarbeitsplätzen verteilten die Mitarbeiter Plastikplanen, die Folien zog man abends und bei Regen übers Mobiliar.
Mit Gummistiefeln zwischen den Regalen
Das tropfende Dach war freilich nichts im Vergleich zum Wasserrohrbruch vor 14 Jahren. Am Rosenmontag stand das Untergeschoss der 170 000 Bände umfassenden Teilbibliothek in der Philosophischen Fakultät unter Wasser. Rund 25 laufende Meter, vier Bücherwagen voll Würzburger Dissertationen, waren aufgequollen, Mitarbeiter versuchten, in Gummistiefeln das Schlimmste zu verhindern. Südekum ordnete ein Notfallsofortprogramm an: 1000 durchweichte Unikate kamen erst einmal in die Kühlräume der Mensa, um sie später gefrierzutrocknen.
Bibliotheken haben „einen Zulauf wie noch nie“
Das Dach der UB ist inzwischen übrigens saniert und dicht. Und der Zulauf „hervorragend“. Nicht nur in Würzburg. Südekum, der lange Jahre im Vorstand des Deutschen Bibliotheksverbandes aktiv war, sagt: „Bibliotheken haben seit fünf, sechs Jahren einen Zulauf wie noch nie.“ Sie seien „die am meisten genutzten kulturellen Einrichtungen in Deutschland“. Mehr Besucher als Kinos, mehr Besucher als die Theater, mehr gar als in den Fußballstadien – öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken seien schlicht beliebt.
Warum? „Wir wissen es nicht.“ Und dann erklärt der Bibliothekar zumindest den Würzburger Zuspruch doch: „Weil wir gute Öffnungszeiten haben: bis 24 Uhr. Und samstags und auch sonntags, mit vollem Service.“ Dazu WLAN, Gruppenarbeitsplätze, Kaffeeautomat. „Bibliotheken sind zu Lernräumen geworden. Und man kann sich hier begegnen.“
Privat stehen „die Gesangbücher unter den Kochbüchern“
Wie viele Bücher besitzt der UB-Direktor privat? Südekum atmet durch, geht in Gedanken seine Regale ab und überschlägt. „Das hält sich in Grenzen. Eins, zwei, drei, vier fünf. Fünfmal sechs sind 30. Jetzt rechnen Sie mal 30 mal 30 . . . So um die 1000 vielleicht.“ Aber, sagt er lächelnd: „Ich habe auch schon ausgesondert.“ Angeordnet hat er die Bücher zu Hause übrigens fachlich: Links steht Geschichte, dann die Literatur, dann kommen die Kunst, Musik, Comics und Graphic Novels. Ganz rechts ist ein Sammelsurium von Reiseführern über Kulinaristik bis zur Bibel: „Ich gebe zu, bei mir stehen die Gesangbücher unter den Kochbüchern.“
Der Chefbibliothekar leiht übrigens selbst in der UB viel aus. Bislang schon, und künftig: „Als ganz normaler Benutzer. Und Anschaffungsvorschläge mache ich auch.“