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WÜRZBURG
Das lange Warten auf die Langzeit-Therapie
Erich Limmer.
Foto: Limmer | Erich Limmer.
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:15 Uhr

Frage: Wie lange müssen Patienten in Unterfranken auf eine Behandlung warten?

Erich Limmer: In Schweinfurt beträgt die Wartezeit für eine Langzeittherapie fast ein Jahr. In Würzburg ist die Lage besser; aber sechs bis acht Monate warten die Menschen jedoch auch.

Ist die Situation in den letzten Jahren schlechter geworden als früher?

Erich Limmer: Ja, eindeutig schlechter.

Woran liegt das?

Erich Limmer: Mehr Menschen als früher nehmen eine Psychotherapie in Anspruch. Die Zahl der Kassenpatienten in einer Psychotherapie ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Psychotherapie ist gesellschaftsfähig geworden in den letzten Jahren. Die Menschen glauben häufig nicht mehr, dass sie stigmatisiert sind, wenn sie zum Psychotherapeuten gehen. Man geht offener damit um.

Gehen mehr Menschen zur Therapie, eben weil Therapie gesellschaftsfähiger geworden ist oder sind die Menschen objektiv belasteter?

Erich Limmer: Sowohl als auch. Ich denke, der Druck auf die Menschen, immer funktionieren zu müssen, ist größer geworden. Was meine Kollegen und ich feststellen, ist, dass die schweren Störungen zugenommen haben. Dazu gehören Borderline-Störungen. Oder narzisstische Störungen – Störungen also, die mit dem Selbstwertgefühl in Verbindung stehen. Und wenn narzisstische Störungen zunehmen, dann nehmen auch Depressionen zu, weil ein gestörtes Selbstwertgefühl Depressionen oft bedingt. Solche Störungen sind nicht angeboren – angeboren ist ja nur eine Disposition für eine Erkrankung. Ausgelöst wird sie durch ungünstige Lebensumstände.

Dass immer mehr Menschen mit schweren Störungen zum Psychotherapeuten kommen, könnte auch im geänderten Zuschnitt der Gesundheitspolitik liegen.

Limmer: Ja, unbedingt. Früher wurden Menschen mit schweren psychischen Störungen eher in die Klinik geschickt, nach Werneck etwa oder nach Lohr. Heute probiert man das erst ambulant. Oder die Klinik überweist nach dem Klinikaufenthalt einen Patienten an uns zurück.

Es gibt ja immer Lebenskrisen wie den Fall in die Arbeitslosigkeit, die Trennung vom Partner oder den Verlust eines nahestehenden Menschen – und viele Menschen stehen solche Zeiten ohne psychotherapeutische Hilfe durch. Wann sollte man unbedingt die Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch nehmen?

Erich Limmer: Menschen bewältigen Lebenskrisen ohne Hilfe. Aber ich habe in langen Jahren die Erfahrung gemacht, dass ein professioneller Begleiter die Zeitdauer einer Krise verkürzt. Angezeigt ist eine Therapie aber auf jeden Fall dann, wenn ein Mensch bemerkt, dass er sein normales Leben nicht mehr leben kann. Wenn er schwere Schlafstörungen bekommt und den Alltag nicht mehr durchhält. Wenn er die Lust am Leben verloren hat und sich gefangen fühlt. Wenn er gefangen ist in einem Gedankenkreislauf, den er immer wieder denken muss und aus dem er selbst nicht mehr rauskommt. Rückzug ist auch ein Indikator: Wenn sich ein Mensch über viele Wochen nicht mehr austauscht mit anderen, nicht mehr aus dem Haus geht, sich von anderen Menschen zurückzieht, dann ist Hilfe nötig. Oft weisen auch körperliche Störungen auf eine seelische Not: wer überfordert ist mit seinem Leben, dessen Immunsystem funktioniert nicht so gut – in der Folge kommt es oft zu Krankheiten, zu vielen Krankschreibungen.

Einerseits empfehlen Psychotherapeuten wie Sie sogar „nur“ in Lebenskrisen eine Therapie – und für schwere Störungen sowieso. Andererseits sind laut Ihrer Aussage die Wartezeiten auf einen Therapieplatz seien lang. Wie sollen akut therapiebedürftigen Menschen die Wartezeit überstehen? Ihre seelische Not ist ja da am größten.

Limmer: Was den Erstkontakt eines Patienten mit einem Therapeuten betrifft, hat sich die Lage seit der neuen Psychotherapeuten-Richtlinie vom 1. April 2017 deutlich verbessert. Diese Richtlinie sieht nämlich vor – und das ist neu –, dass jeder in Vollzeit niedergelassene Psychotherapeut zwei Sprechstunden pro Woche anbietet für Suchende. Stunden also, in denen jemand, der eine Psychotherapie möchte, relativ kurzfristig in die Praxis kommen kann und in denen abgeklärt wird: Welches Problem bringt der Patient mit? Ist Verhaltenstherapie, ist Gesprächstherapie, ist tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie oder Psychoanalyse die richtige Behandlung? Passt die Chemie zwischen Therapeut und Patient? Jeder Patient darf maximal drei solche Sprechstunden besuchen und kann dann bis zu vier probatorische Sitzungen anschließen. Wichtig dabei ist, dass das sein Recht ist! Sprechstunden, Probesitzungen plus Akutintervention sind sein Recht – da können die Kassen nicht Nein sagen.

Das klingt nach Erleichterung – für die Patienten.

Limmer: Ja das ist es in der Tat! Wir sind seit der Strukturreform der psychotherapeutischen Versorgung dazu verpflichtet, diese Sprechstunden anzubieten, wir machen das. Aber die Kehrseite der Medaille ist natürlich die, dass wir dann, wenn wir den Erstkontakt massiv ausbauen, deutlich weniger Zeit für jene Patienten haben, die eine schwere Störung haben und eine langfristige Therapie brauchen. Für diese Patientengruppe hat sich die Wartezeit auf eine Therapie deutlich verlängert. Schauen Sie, eine Verhaltenstherapie dauert im Schnitt 80 Stunden, eine Analyse 240 Stunden.

Das bedeutet doch: Seit der Strukturreform findet ein Mensch in der Krise schneller einen Psychotherapeuten, der einem die Praxistür aufmacht und der einen dort mal heulen lässt und einem zuhört. Aber eine tragfähige Langfristbehandlung zu bekommen, die es einem Patienten ermöglicht, gemeinsam mit seinem Therapeuten einen Krisenbewältigungsweg zu finden, – das ist viel schwieriger geworden.

Limmer: Hier muss man differenzieren. Die Schwelle, psychotherapeutische Hilfe anzunehmen, ist niedriger geworden. Hat sich gezeigt, dass der Patient eine Langzeittherapie braucht, muss er nach wie vor viel Geduld mitbringen. Und unsere Berufsgruppe hat jetzt nicht die Hoffnung, dass sich die Situation bald verbessern wird. Im Gegenteil. Die Reform der psychotherapeutischen Berufsausbildung sieht vor, dass in Zukunft nur noch Absolventen eines psychotherapeutischen Studiengangs Psychotherapeuten werden dürfen – und nicht mehr, wie bisher, auch Kandidaten mit einem Pädagogik- oder Psychologiestudium. Wir befürchten, dass deshalb in Zukunft weniger Psychotherapeuten ausgebildet werden als jetzt.

Erich Limmer

Der Psychologe wurde 1952 in München geboren. Er studierte in seiner Heimatstadt und in Erlangen Psychologie und ist seit mittlerweile 30 Jahre in Schweinfurt und Bergtheim als niedergelassener psychologischer Psychotherapeut tätig. Seit dem Jahr 2000 ist Limmer zudem Geschäftsführer des Würzburger Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie e.V, das junge Psychotherapeuten ausbildet und das eine Ambulanz für Patienten unterhält.

 
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