Tony Bracken ist emeritierter Professor für Mathematik der University of Queensland in Australien. So ist es nicht verwunderlich, dass er – als Tourist in Würzburg unterwegs – auch die Röntgen-Gedächtnisstätte am Röntgenring besucht. Dort macht Bracken eine seltsame Beobachtung, die seine wissenschaftliche Neugier weckt. Am westlichen Eingang des Gebäudes fallen ihm zwei seltsame trigonometrische Formeln auf, eingraviert im Boden.
Unsinn oder Forschung? Die Bedeutung kann sich der Mathematiker nicht erklären. „Für mich sahen sie nach Unsinn aus. Aber vielleicht haben sie ja eine Bedeutung im Zusammenhang mit der Forschung, die damals in dem Gebäude betrieben wurde“, erzählt Bracken.
sin (y)sin (y/2)=1.3685 sin (x)sin (x/3) und sin (x)sin (x/3)+sin (y)sin (y/3)+0.4375=0: So lauten die beiden Formeln in den Bodenkacheln. Auf der Suche nach einer Lösung für dieses Rätsel wendet sich der australische Mathematiker an die Pressestelle der Würzburger Universität. Weiterhelfen kann man ihm dort nicht.
Bracken sucht weiter nach einer Erklärung. In „Physics World“, der Zeitschrift des British Institute of Physics, veröffentlicht der Mathematiker einen Brief, in dem er die Würzburger Fußboden-Formeln wiedergibt. Ein englischer Physiker im Ruhestand nimmt Kontakt mit ihm auf und schreibt nach Australien. Der Brite hat seinerseits Kollegen in Deutschland befragt.
Und tatsächlich: Einer dieser deutschen Kollegen hatte die Frage nicht an die Universität, sondern an die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Würzburg weitergeleitet. In deren Besitz befindet sich heute Röntgens ehemalige Wirkungsstätte. Von der Fachhochschule erhält der Wissenschaftlerkollege einen Zeitungsartikel, der 1971 in der Main-Post erschienen war und der sich mit den seltsamen Formeln beschäftigte.
Eine eingescannte Version des Artikels liegt der Post an Bracken bei. Unter der Überschrift „sin x und sin y unter den Füßen“ hatte sich der Autor Ernst Nöth am 2. Juli 1971 mit der Bedeutung der Formeln beschäftigt. Das Ergebnis: Die mathematischen Formeln bilden die Grundlage für das Muster der Bodenfliesen, die in dem Gebäude zu sehen sind. Zum Beweis zitiert Nöth aus einer handschriftlichen Chronik von Professor Friedrich Wilhelm Georg Kohlrausch, der von 1875 bis 1888 als Vorgänger von Wilhelm Conrad Röntgen Ordinarius für Physik an der Universität Würzburg gewesen war.
„Die Fußbodenplattung am Eingang wurde nach Zeichnungen des Assistenten Dr. Strouhal aus Gefälligkeit von Villeroy und Boch in Mettlach unter Leitung des Ingenieurs Hrn. Urbach hergestellt. Die Curven fanden sich in einer amerikanischen Abhandlung von Newton und Philipps“, heißt es in dieser Chronik.
Der historische Hintergrund: Vinzenz Strouhal, auf den die Zeichnung der Bodenplatten also zurückgeht, stammte aus Prag und war von 1875 bis 1879 wissenschaftlicher Assistent bei Kohlrausch und anschließend Privatdozent gewesen. 1882 kehrte er nach Prag zurück – als einer der Gründungsprofessoren im Bereich Physik an der Karls-Universität. Dort absolvierte er eine „herausragende Karriere“, wie Tony Bracken jetzt schreibt. Vor allem seine Forschung auf dem Gebiet der Physik von Flüssigkeiten sei von großer Bedeutung gewesen. Die Strouhal-Zahl – eine in der Strömungsmechanik verwendete dimensionslose Kennzahl – ist nach ihm benannt.
1875 hatte Friedrich Kohlrausch die ersten Pläne für das Physikalische Institut am späteren Röntgenring gezeichnet. Es sollten allerdings drei Jahre vergehen bis der bayerische Landtag den Bau bewilligte. Am 18. Mai 1878 wurde mit dem Bau begonnen, am 8. November 1879 wurde das Institut eröffnet. Exakt 16 Jahre später – am 8. November 1895 – sollte Wilhelm Conrad Röntgen dort die Entdeckung machen, die noch heute mit seinem Namen verbunden ist.
Damit ist klar, dass die Formeln nichts mit Röntgen zu tun haben. Und die Suche nach der „amerikanischen Abhandlung von Newton und Philipps“, aus der sie stammen sollen, wurde noch nicht gestartet. Immerhin konnte Anja Schlömerkemper, Inhaberin des Lehrstuhls für Mathematik in den Naturwissenschaften an der Würzburger Universität, bestätigen, dass die Formeln tatsächlich für das Fliesenmuster im Eingangsbereich des einstigen Physikalischen Instituts stehen.
Mit Hilfe des Programms Mathematica konnte die Professorin die Kurven anhand der Formeln grafisch darstellen: „Die Formel, in der 0.4375 vorkommt, entspricht dem Ornament auf den äußeren Fliesen“, sagt Schlömerkemper. „Die andere Formel, also die mit 1.3685, entspricht dem Muster auf den inneren Fliesen.“
Was bleibt nun als Fazit? Zumindest die Aussage, dass die Spuren im Boden der Röntgen-Gedächtnisstätte Beweis dafür sind, „dass mathematische Formeln bestehen bleiben und Generationen, Regierungen, Kriege und Brände unbeschädigt überstehen, selbst wenn sie von Studenten, Assistenten und Professoren viele Jahrzehnte mit Füßen getreten werden“, wie Ernst Nöth 1971 in der Main-Post schreibt. Und heute sogar von den Füßen aufmerksamer australischer Touristen.