In den Wochen vor Weihnachten vergeht kaum ein Tag, an dem das Lied nicht irgendwo aus Kehlen oder Lautsprechern schallt. Kinderchöre singen es auf Weihnachtsmärkten, es wird im Radio gespielt, in evangelischen und katholischen Kirchen an Weihnachten gleichermaßen gerne gesungen. Keine Frage, gäbe es eine Hitliste der bekanntesten und beliebtesten deutschen Weihnachtslieder, „O du fröhliche“ würde sich mit „Stille Nacht“ ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den Spitzenplatz liefern. Kein Wunder, die Melodie ist eingängig, der Text ist leicht zu merken. Aber, was wohl kaum jemand weiß, „O du fröhliche“ ist ein Weihnachtslied, das eigentlich gar keines sein sollte. Und entstanden ist es in einer Zeit, die alles andere als fröhlich war.
In Weimar herrschten Anfang des 19. Jahrhunderts Not und Elend. Die Völkerschlacht von Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813) hatte Zehntausende Opfer gefordert, und die Stadt stand noch unter dem Eindruck der französischen Besatzung. Die Nahrung war knapp, es gab schwere Krankheiten und viele verwaiste und verwahrloste Kinder, die ohne Perspektive auf der Straße lebten. „Die Bedrohung für die Menschen war damals eine ganz andere als heute.
Es gab eine hohe Sterblichkeitsrate, es gab Kriege und Krankheiten, aber trotz all dem fanden viele Menschen Halt in ihrem Glauben“, erzählt Guido Fuchs vom Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg.
Einer dieser Menschen, die trotz eines schweren Schicksals Halt in ihrem Glauben fanden, war der Theologe und Publizist Johannes Daniel Falk (1768-1826). Seine Frau und er verloren im Jahr 1813 innerhalb weniger Monate vier ihrer sieben Kinder an einer in Weimar grassierende Typhusepidemie. Doch Falk verzweifelte nicht an seiner Trauer.
Der Mann war das, was man heute wohl einen Philanthropen, einen Menschenfreund nennen würde. Statt mit seinem Schicksal zu hadern, gründete er mit anderen Weimarer Honoratioren die „Gesellschaft der Freunde in Not“, deren Ziel es war, den vielen Waisenkindern in der Stadt zu helfen. Falk und seine Unterstützer kauften ein verfallenes Gebäude in Weimar und ließen es herrichten. Die elternlosen Jungen bekamen eine neue Heimat, wurden unterrichtet und erhielten eine Berufsausbildung.
Für Falk war es jedoch nicht damit getan, für Kleider, warmes Essen, Schulbildung und ein Dach über dem Kopf zu sorgen. Die Erziehung im „Lutherhof“, so der Name der Einrichtung, war auch stark religiös geprägt. Und so suchte der Theologe in der Adventszeit 1816 nach einem Weg, seinen Schützlingen mit möglichst einfachen Worten, die Bedeutung der drei großen Feste der Christenheit näher zu bringen: Weihnachten, Ostern, Pfingsten.
„'O du fröhliche' war eine Art Gelegenheitsdichtung“, erzählt Professor Fuchs. Nur dass die erste Strophe dieser Gelegenheitsdichtung, die Falk „Allerdreifeiertagslied“ nannte, heute fast jeder Deutsche auswendig kennt:
„O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit./Welt ging verloren,/Christ ward geboren./Freue, freue dich, o Christenheit.“
Die beiden anderen Strophen der Dichtung gerieten in Vergessenheit. „Das Lied war darauf ausgelegt, kindgerecht, in einfachen Worten, die christliche Botschaft ohne großes Brimborium zu vermitteln“, so Fuchs. Das zeigt sich auch in den beiden „vergessenen“ Versen: „O du fröhliche, / o du selige / gnadenbringende Osterzeit. / Welt liegt in Banden, / Christ ist erstanden. / Freue, freue dich, o Christenheit.“
„O du fröhliche, / o du selige / gnadenbringenden Pfingstzeit. / Christ, unser Meister, / heiligt die Geister./ Freue, freue dich, o Christenheit.“
Die Melodie, die sich der Theologe für sein Allerdreifeiertagslied aussuchte, gehört zu „O sanctissima, o purissima“ (O, du Heilige, Hochbenedeite), einem Marienlied sizilianischer Fischer. Wie genau Falk darauf gestoßen ist, lässt sich heute nicht mehr sagen. Quellen berichten, ein italienisches Findelkind habe ihm „O sanctissima“ einmal vorgesungen. Möglich ist aber auch, dass der Theologe die Melodie einfach von Johann Gottfried Herder übernommen hat. Der Philosoph und Dichter hatte das Lied von einer Italienreise mitgebracht und veröffentlicht.
Für die Kinder im „Lutherhof“ zählte „O du fröhliche“ bald zum musikalischen Pflichtprogramm. Es wurde Jahr für Jahr gesungen und weitergegeben, so dass Heinrich Holzschuher (1798-1847), ein aus dem oberfränkischen Wunsiedel stammender Sozialarbeiter, der im Jahr 1823 im „Lutherhof“ hospitierte, es mehrfach gehört haben dürfte. Als Holzschuher 1827 an einem eigenen Weihnachtsspiel für seine Schützlinge arbeitete, erinnerte er sich offenbar an das Allerdreifeiertagslied vom Weimarer „Lutherhof“. Holzschuher übernahm kurzerhand die erste Strophe, fügte ihr zwei weitere hinzu – und so wurde „O du fröhliche“ zum Weihnachtslied.
Verbreitet haben dürfte sich „O du fröhliche“ – in einer Zeit, in der selbst Musikkassetten noch reine Science-Fiction waren – vor allem über Mundpropaganda. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts war es ein populäres Lied und fand später auch in evangelische und katholische Gesangbücher Eingang. „Es wurde in Gottesdiensten gespielt und von Chören gesungen“, erzählt Fuchs. „Die Melodie ist eingängig, der Text ist leicht zu merken und man kann es gut mehrstimmig singen“, erklärt Fuchs das Erfolgsrezept.
Aber was ist eigentlich das Besondere an diesem Weihnachtslied, das gar keines sein sollte? „Es ist die Botschaft. Der Wunsch nach einem fröhlichen Weihnachten, der für die Menschen in dieser damals so schweren Zeit nicht einfach nur ein Wunsch war“, sagt Fuchs. „Diese Fröhlichkeit ist bei allem, was Falk erlebt hat, nichts Äußerliches und Aufgesetztes, sondern basiert auf einem tiefen Glauben, der ihm Freude brachte. Falk dachte bei seiner Dichtung vor allem an die froh machende Botschaft des Evangeliums, die auch ihn in schwerer Zeit getragen hat.“
In den nächsten Samstagsausgaben stellen wir Ihnen gemeinsam mit Professor Guido Fuchs drei weitere Weihnachtslieder und ihre Geschichte vor.
Guido Fuchs
Der 1953 in Göppingen geborene Guido Fuchs studierte Musikwissenschaft, kath. Theologie und Byzantinistik und habilitierte sich in Würzburg. Er ist außerplanmäßiger Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Würzburg und leitet das „Institut für Liturgie- und Alltagskultur“ in Hildesheim. Fuchs ist Autor des Buches „Unsere Advents- und Weihnachtslieder. Geschichte und Geschichten“, erschienen im Herder Verlag, Freiburg 2015. FOTO: Privat